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Wolf-Ekkehard Lönnig (2003):

Vorbemerkung am 25. Mai. 2003

Auch der folgende Beitrag wurde vor der Sperrung meiner Instituts-Library geschrieben. Tatsächlich kann zur Zeit Max Planck zum Thema Gott und Naturwissenschaft nicht auf einer MPI-Homepage zitiert werden und Erwin Baurs Darstellung der Mendel'schen Gesetze nicht auf einer Seites des von ihm gegründeten Instituts (zu den Details vgl. weiter http://www.weloennig.de/KutscheraVerbotsversuche.html).

Die Rezension des Lehrbuchs von Herrn Kutschera erfolgt unten im Rahmen einer Diskussion. Es ist für den Leser vielleicht am einfachsten, an diesem Punkt der Diskussion einzusteigen.

Rezension: Einige gravierende Fehlinformationen in Herrn U. Kutscheras Lehrbuch Evolutionsbiologie (Parey Buchverlag Berlin 2001)

  • Einleitung: Mein Brief vom 12. August 2002 an den vdbiol.
  • Einige gravierende Fehlinformationen in Herrn U. Kutscheras Lehrbuch Evolutionsbiologie (Parey Buchverlag Berlin 2001).
  • Einleitung: Am 18. Dezember 2002, um 12.10 Uhr, konnte ich bei einem Kollegen das neueste Heft von biologenheute einsehen - ich selbst habe drei Exemplare am 20. Dezember erhalten (für die ich den Herausgebern danke) -, in dem Herr Kutschera ausführlich (volle 2 Seiten, d.h. 6 Spalten) auf meinen Leserbrief (2 Spalten) zu seinen Bemühungen eingeht, meine Homepage am hiesigen Institut ursprünglich verbieten zu lassen und nach Scheitern mehrerer solcher Versuche, diese weiter als "Kreationismus" zu diskriminieren (eine Diskussion der Antwort Kutscheras - vgl. biologenheute 6_2002, pp. 13-14 - ist in Arbeit). Die auf meiner Institutshomepage wiedergegebenen Arbeiten (die z.T. schon in internationalen Fachzeitschriften und Enzyklopädien erschienen waren) dürften nur auf (m)einer privaten Homepage erscheinen, denn "Herr Lönnig hat selbstverständlich das Recht, seine kreationistische Weltsicht als Privatmann im Internet zu präsentieren." Er beruft sich zur Rechtfertigung seiner Auffassung zur Ursprungsthematik hier und an vielen anderen Stellen u. a. auf sein Lehrbuch (Kutschera, U, [2001]: Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung), in dem die meisten der wesentlichen Fragen zum Thema Evolution, Kreationismus und Intelligent Design bereits völlig beantwortet seien.

    De facto hätte die Umsetzung von Kutscheras Verbotsanträgen bedeutet, dass Max Plancks Auffassungen zum Thema Gott und Naturwissenschaft MaxPlanck.html nicht mehr auf einer Max-Planck-Instituts-Homepage erscheinen dürften und Erwin Baurs Einführung in die Mendel'schen Regeln Baur.html nicht mehr auf der Homepage des von ihm 1928 gegründeten Instituts (heute MPI für Züchtungsforschung).

    Kurz vor Einsicht in die Dezemberausgabe 2002 von biologenheute führte ich eine Diskussion mit einem Kollegen über meinen Beitrag zu Sir Karl Poppers Falsifikationskriterien. Darin bin auch ich auf einige wesentliche Fragen zu Herrn Kutscheras Lehrbuch zu sprechen gekommen. Ich denke, dass die vorliegende Diskussion dem Leser, der an der Frage nach der Zuverlässigkeit der Aussagen von Herrn Kutscheras Lehrbuch interessiert ist, behilflich sein kann, zu einem fundierten Urteil zu wesentlichen Punkten des Lehrbuchs zu gelangen, - weshalb ich diese Diskussion hier wiedergebe. Weiter möchte ich den Leser bitten, an Hand der Literatur des Nachtrags gründlich zu prüfen, ob meine Behauptung tatsächlich zutrifft, dass die hier aufgezeigte Fehlerhaftigkeit auch für weitere Teile des Lehrbuchs Kutscheras gilt.

     

    1) Mein Brief an den vdbiol [die Anmerkung in eckigen Klammern nachträglich]:

    Verbieten statt diskutieren?

    Sehr geehrte Herren:

    Da ich von Herrn Prof. Kutschera im Rahmen seines Nachrufs zu Stephen Jay Gould [den ich in vielen biologischen Fragen sehr geschätzt habe, nicht aber in seinem Marxismus] in der Ausgabe 4/2002, S. 19, von biologenheute als einer der beiden "prominenten Kreationisten" verunglimpft werde, die ihre "pseudowissenschaftlichen Ideologien unwidersprochen im Internet" (index.html ) und anderswo verbreiten, möchte ich kurz zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen.

    1. Herr Kutschera selbst hat bisher 3 Versuche unternommen, um meine Homepage am hiesigen Institut verbieten zu lassen. Seinem Antrag aber wurde nicht entsprochen. Seine Versuche zeichneten sich u.a. durch das völlige Fehlen einer naturwissenschaftlichen Argumentation zu meiner ausgedruckt mehr als tausend Seiten umfassenden und zu über 95% aus naturwissenschaftlichen und biologiehistorischen Tatsachen und Argumenten bestehenden Instituts-Homepage sowie durch ein mangelhaftes Toleranzverständnis in den Wissenschaften aus.

    2. Ich bin kein Kreationist und ich habe mich auch auf meiner Homepage wiederholt vom Kreationismus distanziert, so zum Beispiel in einer Diskussion wie folgt:

    Zur Definition des Kreationismus gehört nach Science vom 22. Oktober 1999, p. 659 (und ebenso nach Auffassung der Kreationisten selbst):"…creationists believe that God created the universe in 6 days 10,000 years ago…"

    Ich akzeptiere weder die 6 buchstäblichen Tage noch die 10 000 Jahre. Auch gehöre ich keiner der zahlreichen Vereinigungen des "wissenschaftlichen Kreationismus" im In- und Ausland an. Natürlich versuchen manche Zeitgenossen, den Begriff "Kreationismus" zu Diffamierungszwecken weiter zu fassen und alle Intelligent-Design-Theoretiker sowie Vertreter des ontologischen Idealismus unter diesem Begriff zu subsumieren. Aber dann waren und sind alle Forscher, die entweder für den Ursprung des Lebens und/oder für die Entstehung des Universums Planmäßigkeit annehmen oder angenommen haben, wie Max Planck, John Eccles, Karl von Frisch und viele weitere angesehene Forscher und Nobelpreisträger "Kreationisten", und ich befinde mich in bester naturwissenschaftlicher Gesellschaft.

    3. Sir Karl R. Popper schreibt 1995, S. 124: "Das Spiel der Wissenschaft hat grundsätzlich kein Ende: wer eines Tages beschließt, die wissenschaftlichen Sätze nicht weiter zu überprüfen, sondern sie etwa als endgültig verifiziert zu betrachten, der tritt aus dem Spiel aus" (kursiv von W.-E.L.). Wir sollten grundsätzlich zwischen weltanschaulicher Motivation und naturwissenschaftlicher Ebene unterscheiden. Statt die Naturwissenschaften zu verlassen und die Synthetische (oder andere) Evolutionstheorie(n) als "endgültig verifiziert" zu betrachten sowie jeden Falsifikationsversuch dazu zu untersagen, lautet mein Vorschlag: Diskutieren statt andere Positionen zu diffamieren und verbieten zu wollen!

    4. Das Grundgesetz garantiert die akademische Freiheit, die auch die Max-Planck-Gesellschaft zu ihrem Leitmotiv in der Forschung gemacht hat. Das schließt grundsätzlich auch vom generellen Konsens abweichende Meinungen ein. Ja, wie die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt, resultiert der Fortschritt sogar häufig aus zunächst vom herrschenden Konsens divergierenden Auffassungen. Der Versuch Kutscheras, ein makroevolutionistisches Meinungsmonopol durch Diffamierung Andersdenkender zu errichten, ist nach meinem Verständnis als wissenschaftsfeindlich abzulehnen.

    Mit der Bitte um Publikation meines Briefes in biologenheute

    verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,

    Literatur

    Kutschera, U. (2002): Stephen Jay Gould (1941- 2002): Paläobiologe, Evolutionstheoretiker und Anti-Kreationist. Biologen heute. Vol 4, 18-19.

    Lönnig, W.-E. (2002): Eine ausführliche Stellungnahme zu meinen Kritikern siehe unter Antwort_an_Kritiker.html

    Popper, K.R. (1995): Lesebuch. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.

    Anmerkung: Der Brief wurde in biologenheute vom Dezember 2002, p. 12, im Wesentlichen so wiedergegeben, wofür ich meine Wertschätzung zum Ausdruck bringen möchte. Allerdings wurde der Titelvorschlag nicht übernommen. Die Homepageadresse (jetzt internetlibrary) - das Hauptangriffsziel von Herrn Kutschera - wurde bedauerlicherweise nicht wiedergegeben, der Begriff Intelligent-Design-Theoretiker wurde in Anführungszeichen gesetzt und die Literaturangaben gestrichen (das Letztere scheint in einigen Magazinen bei Leserbriefen so üblich zu sein, nicht aber bei Science und Nature). Auch heiße ich in der Dezemberausgabe von biologenheute "Walter" Ekkehard Lönnig.

    Auf alle Fälle möchte ich mich für den Mut der Herausgeber, durch die Wiedergabe des Briefes das heiße Eisen anzupacken, sehr bedanken.

     

    2. Einige gravierende Fehlinformationen in Herrn U. Kutscheras Lehrbuch Evolutionbiologie (Parey Buchverlag Berlin 2001).

    Mein Brief (als Attachment) an Herrn E.F. (Initialen verändert). Köln, den 18. Dezember 2002

    Lieber Herr E.F. :

    Besten Dank für Ihre Nachricht vom 5. Dezember 2002.

    Nachdem ich mich immer wieder auf meine vielfältigen Aufgaben hier am Institut und anderswo berufen musste (und es warten tatsächlich schon wieder einige zeitaufwändige [zu schreibende] Artikel und vielfältige weitere Forschungsaufgaben auf mich), habe ich mir jetzt dennoch etwas Zeit genommen, um Ihnen ausführlicher zu antworten, auch wenn ich viele wichtige der von Ihnen genannten Punkte noch nicht ansprechen konnte.

    In mehreren Fragen stimmen wir überein. Im Folgenden möchte ich jedoch aus Ihren Anmerkungen auch einige Punkte herausgreifen, die wir unterschiedlich beurteilen und ich möchte meine Position dazu näher erläutern (dabei zitiere ich wieder mehrere Autoren; Hervorhebungen sind, soweit nicht anders vermerkt, von mir). Zunächst gebe ich noch einmal die zur Diskussion stehenden Absätze aus meinem Popper-Beitrag wieder (Lönnig, 2002):

    (Popper:) Wenn wir versuchen, Experimente mit Bakterien zu erklären, die sich zum Beispiel an Penicillin angepaßt haben, dann ist die Theorie der natürlichen Auslese dabei eine große Hilfe.

    (W.-E.L.:) Theorien der natürlichen Auslese sind tatsächlich von "Kreationisten" schon vor Darwin vertreten worden. Statt eine "große Hilfe" zu sein, hat sich die darwinistische Version der Theorie mit ihrem ‘Allerklärungsanspruch’ - insbesondere zur Interpretation der Antibiotikaresistenzen - nur sehr begrenzt als zutreffend erwiesen. Für die Beantwortung der entscheidenden Fragen jedoch ist die Synthetische Evolutionstheorie bis heute eher ein Hindernis in der Forschung und Lehre und sie hat zu zahlreichen Fehlinterpretationen Anlass gegeben (vgl. wieder den Lederbergversuch sowie Bakterienresistenzen).

    Dazu sei ein neueres Beispiel erwähnt mit anschließender Wiedergabe von Zitaten aus den eben erwähnten Links:

    U. Kutschera schreibt in seiner EVOLUTIONSBIOLOGIE 2001, p. 227, zu den Antibiotikaresistenzen: "Diese auf Mutation/Selektion basierende rasche Bakterienevolution ist in Krankenhäusern zu einem großen Problem geworden." Nach meinen Erfahrungen erhält der mit den Tatsachen nicht vertraute Leser bei solchen und ähnlichen Aussagen den Eindruck, als gingen die Antibiotikaresistenzen in den Krankenhäusern direkt auf eine durch Mutation und Selektion verursachte Bakterienevolution zurück.

    Der 'Faktor' Selektion ist zwar zutreffend, tatsächlich aber stehen die Mutationen hier nur an zweiter Stelle und die genetische Hauptursache wird von dem Autor überhaupt nicht genannt. Dazu einige Aussagen und Richtigstellungen:

    Pelczar/Chan/Krieg bemerken in ihrem Werk MICROBIOLOGY zum horizontalen Gentransfer bei Bakterien über die Art- und Gattungsgrenzen hinweg (1993, p. 572):

    "Transmission of antibiotic resistance by conjugation was first reported independently in 1958 by two Japanese microbiologists, Akiba and Ochiai. They had isolated pathogenic Shigella dysenteriae bacteria from patients with bacillary dysentery and found that some of the cells were resistant to sulfonamides, tetracyclines, streptomycin, and chloramphenicol. Other cells of the same strain of S. dysenteriae showed no such resistance. Where had the resistant cells acquired the genes for their resistance? Akiba and Ochiai showed that the genes had been acquired from conjugation with antibiotic-resistant E.coli cells that resided in the patients' intestinal tracts. Transfer of antibiotic resistance by bacterial conjugation has subsequently been observed in other species of bacteria and in other parts of the world."

    Und Bachmann et al. schreiben (1998, p. 9082): "The principal cause of bacterial resistance to penicillin and other b-lactam antibiotics is the acquisition of plasmid-encoded b-lactamases, enzymes that catalyze hydrolysis of the b-lactam bond and render these antibiotics inactive."

    "Most examples of antibiotic resistance in pathogenic bacteria are not the result of a mutation that alters the protein that the antibiotic attacks, although this mechanism can occur in laboratory experiments" (Kadner 1997, p. 585).

    "Grundlagen der Resistenzentwicklung sind Mutationen, Rekombinationen (beides selten) und (häufig) der Erwerb von Plasmiden, die Resistenzgene tragen" (Zetkin/Schaldach 1999, p. 1724; bold auch in diesem und den obigen Zitaten von mir).

    Darüber hinaus handelt es sich bei der zweiten Gruppe der relativ seltenen mutationsbedingten Resistenzen in der großen Mehrheit der Fälle um Verlustmutationen - ein für die (Makro-) Evolutionsfrage entscheidender Punkt, der jedoch ebenfalls nicht im Lehrbuch von U. Kutschera genannt wird (vgl. Sie bitte zu diesem Punkt und zu weiteren Fragen die Details und Literaturangaben in den oben zitierten Links).

    In dieser Frage ist Sir Karl Popper von Vertretern der Synthetischen Evolutionstheorie leider genauso fehlinformiert worden wie im Fall des Birkenspanners (vgl. das Kapitel Natural Selection). In diesen Punkten hätte Sir Karl Popper vielleicht etwas kritischer sein können. Aber es ist sicher schwierig "falsche Tatsachen" zu durchschauen.

    Zusätzlich dazu mein Kommentar: "Solche wie die soeben erwähnten Unzulänglichkeiten gibt es im Lehrbuch [Evolutionsbiologie] Kutscheras en masse!"

    Zum Punkt Popper und ‘falsche Tatsachen’ schreiben Sie:

    E.F.: Das Problem ist, was man hier unter 'Tatsachen' verstehen möchte.

    W.-E.L.: Zu den "falschen Tatsachen" bemerkt Darwin sehr treffend in seiner Arbeit The Descent of Man (1871): "False facts are highly injurious to the progress of science, for they often endure long; but false views, if supported by some evidence, do little harm, for every one takes a salutary pleasure in proving their falseness: and when this is done, one path towards error is closed and the road to truth is often at the same time opened."

    Zu den highly injurious false facts that have endured long (and still endure!) zähle ich im Falle des Birkenspanners Biston betularia folgende Korrekturpunkte (vgl. Natural Selection NaturalSelection.html):

    (a) The peppered moth normally doesn’t rest on tree trunks (where Kettlewell had directly placed them for documentation); (b) The moth usually choose their resting places during the night, not during the day (the latter being implied in the usual evolutionary textbook illustrations); (c) The return of the variegated form of the peppered moth occurred independently of the lichens "that supposedly played such an important role" (Coyne); and (d) Kettlewell’s behavioral experiments have not been replicated in later investigations. Additionally, there are important points to be added from the original papers, as (e) differences of vision between man and birds and (f) the pollution-independent decrease of melanic morphs.

    Zu diesen Fragen ist Popper jedenfalls falsch informiert worden, in ganz ähnlicher Weise, wie noch heute die Leser von U. Kutscheras Lehrbuch [zur Evolutionsbiologie], an dem ich diese Fehlinformation Poppers weiter veranschaulichen kann.

    Tatsächlich bestehen die entscheidenden Punkte aus Kutscheras Lehrbuch zu diesem Thema (2001, pp. 184-186) aus solchen "falschen Tatsachen". Ich greife hier nur einmal die "falsche Tatsache" der Baumstämme als Tagesrastplatz der Nachtfalter heraus (man könnte mehrere weitere "falsche Tatsachen" allein aus diesem Abschnitt aus Kutscheras Lehrbuch herausarbeiten). Kutschera schreibt 2001, p. 184: "Die Nachtfalter sitzen am Tag bewegungslos auf Baumstämmen und fliegen nur während der Dunkelperiode umher (Abb. 9. 5). " (Pp. 184/185): "Natürliche Feinde der Nachtfalter sind die Vögel. Es wurde beobachtet, daß Singvögel selektiv jene am Tag unbeweglich an Stämmen sitzenden Falter fressen, die sie optisch wahrnehmen (sehen) können: Weiße Birkenspanner auf hellem Hintergrund (bzw. schwarze auf dunkler Rinde) können aufgrund ihrer Tarnfärbung von potentiellen Feinden kaum erkannt werden...In einem unverschmutzten Wald (helle Baumstämme) wurden 984 markierte Birkenspanner ausgesetzt....usw., usf. ("Die dunkle Mutante hatte auf den weißen Birkenstämmen nur eine geringe Überlebenschance und wurde daher weitgehend eliminiert"; pp. 185/186).

    Die Schwierigkeit mit solchen "false facts" liegt für den Leser darin, dass er sie auch bei großem Scharfsinn meist nicht ohne weiteres durchschauen kann. Denn wer kommt schon angesichts der oben zitierten Behauptungen Kutscheras und vieler weiterer Lehrbuchautoren auf die Idee, dass diese Falter normalerweise überhaupt nicht auf Baumstämmen "sitzen" weder tagsüber noch nachts? Wer kommt auf die Idee, dass die Nachtfalter statt dessen von Kettlewell und anderen Versuchsveranstaltern zumeist auf die Baumstämme gesetzt (oder tagsüber ganz in deren Nähe freigelassen) wurden oder sogar aufgeklebt worden sind (aber nicht von Kettlewell)? Wer kommt dabei auf den Gedanken, dass die Nachtfalter tagsüber fast ausnahmslos "in shaded areas under branches" in Ruhestellung verharren? ("It is now universally acknowledged that Cyril Clarke, who laconically observed that in twenty-five years he had seen exactly two Biston resting on tree trunks, was right after all: the normal daytime resting place of peppered moths is not on tree trunks but in shaded areas under branches, where colour differences would be muted"J. Hooper: Of Moths and Men, 2002, pp. 265/266, kursiv von Hooper, bold von mir). Wohl kaum ein Leser wird jeden einzelnen der in einem naturwissenschaftlichen Lehrbuch als Tatsache aufgeführten Punkte in Frage stellen wollen! Und ein Student wird viel eher bereit sein, die als Tatsachen vermittelten Punkte "gläubig" anzunehmen!

    Aber nach der schon als "kleine Sensation" zu bezeichnenden Buchbesprechung von Coyne in Nature 1998 zur der Aufdeckung dieser "falschen Tatsachen" (Sargent et al., 1998; Majerus, 1998; Coyne, 1998) hätte ein Lehrbuchautor im Jahre 2001 das nun wirklich besser wissen können und meiner Auffassung nach sogar müssen!

    Eine ausführliche Diskussion und Widerlegung von Einwänden, die zu dieser Darstellung erhoben worden sind, findet der daran interessierte Leser unter dem Diskussionspunkt: Wo befinden sich 99,9% der Birkenspanner nach allen bisherigen Daten tagsüber bzw. wo befinden sie sich tagsüber nicht?

    Wenn es sich jedoch nur um dieses eine Beispiel handeln würde, könnte ich noch verstehen, dass Sie das Lehrbuch "Anfängern durchaus empfehlen [können], weil es sehr klar im Rahmen der STE bleibt und so den MainStream darstellt". Aber bei ganzen Serien solcher Beispiele kann ich diese Haltung nur insofern nachvollziehen als das Buch den noch nicht mit den Tatsachen vertrauten Lesern das auch von Ihnen befürwortete naturalistische Paradigma als einzig naturwissenschaftlich mögliche Antwort vermittelt. Aber die folgende Antwort von W.R. Thompson zu Sir Arthur Keiths statement "The Origin of Species is still the book which contains the most complete demonstration that the law of evolution is true" möchte ich auch auf Kutscheras Beiträge anwenden, insbesondere auf sein Lehrbuch [zur Evolutionsbiologie]: "But the more strongly we insist on this point, the more necessary it is to scrutinize the proofs given in the Origin. Of course, we may be induced to accept a statement that is true, by agreements that are fallacious or inadequate. Still, no one would seriously maintain that it is good to do the right thing for the wrong reasons. If arguments fails to resist analysis, assent should be withheld, and a wholesale conversion due to unsound argument must be regarded as deplorable" (W.R.Thompson: Introduction to the origin of Species, J.M.Dent & Sons LTD, London 1967, pp. vii/viii).

    E.F.: Auf der einen Seite gibt es (vermutlich unstrittig) Verschiebungen von Allel-Frequenzen in Populationen durch Selektion.

    W.-E.L.: Verschiebungen von Allelfrequenzen sind unstrittig. Die genaue Antwort auf die Selektionsfrage scheint hingegen weitgehend offen zu sein, ebenso die Frage, in wie weit auch neutrale und eigengesetzliche Variationen eine Rolle spielen könnte.

    E.F.: Ob und in wie weit das 'Evolution' ist, dürfte umstritten sein.

    W.-E.L.: Einverstanden! Eine Utricularia, Coryanthes und Catasetum kann man damit nicht erklären.

    Zu meinem Kommentar zu Popper ("In diesen Punkten hätte Sir Karl Popper vielleicht etwas kritischer sein können. Aber es ist sicher schwierig "falsche Tatsachen" zu durchschauen.") schreiben Sie:

    E.F.: Man müsste sehr differenziert betrachten, wo Popper besser hätte informiert sein können.

    W.-E.L.: Wie oben schon ausgeführt, habe ich selbst einige der mit Biston betularia im Zusammenhang stehenden "falschen Tatsachen" schon mehrere Jahre zuvor hinterfragt (siehe Lönnig 1971 und insbesondere 1986 und 1993: vgl. AesV1.1.Indi.html). Das lag jedoch nicht an meinem (Popper etwa überlegenem) Scharfsinn, sondern an meiner kritischen Grundhaltung zum herrschenden Paradigma. Popper hatte jedoch in seinem Bemühen, nach einigen "kreationistisch" interpretierten Zitaten aus seinen Arbeiten, sein Ansehen in der neodarwinistischen "Gemeinde" wiederherzustellen, das Biston-betularia-Beispiel recht unkritisch übernommen. Zumindest die Punkte, die ich selbst schon vor einigen Jahren herausgearbeitet habe, würde ich auch Popper (wenn nicht wesentlich mehr!) zugetraut haben.

    Zu meiner Frage: "Was sagen Sie zu solchen Passagen wie der folgenden im Lehrbuch von U. Kutschera?" - (siehe die Zitate zu den Antibiotikaresistenzen oben), schreiben Sie:

    E.F.: Ich will wirklich keine Lanze für Kutschera brechen. Sie sollten aber eins bedenken: ‘Mutation’ im Sinne der STE ist nicht so spezifisch definiert, wie Sie das tun, also als ‘Gen-Mutation’ etc.

    W.-E.L.: Dieser Punkt erscheint mir für die Möglichkeiten und Grenzen naturwissenschaftlicher Argumentation als so bedeutend (zumal ich diese Aussage auch schon an anderer Stelle gehört habe), dass ich ihn im Folgenden etwas ausführlicher diskutieren möchte.

    Die Entdeckung, dass es sich bei der ‘auf Mutation/Selektion basierenden raschen Bakterienevolution’, die ‘in Krankenhäusern zu einem großen Problem geworden ist’ (Kutschera, p. 227), tatsächlich nicht um Mutationen im Sinne der Synthetischen Evolutionstheorie handelt, haben sehr viele - auch alle mir bekannten neodarwinistischen - Autoren seit Jahrzehnten immer wieder betont.

    R.B.Davey und D.C.Reanney meinen in ihrem Beitrag Extrachromosomal Genetic Elements and the Adaptive Evolution of Bacteria (in M.K. Hecht, W.C. Steere, B. Wallace (Eds.) Evolutionary Biology, Vol. 13, pp. 113-147, 1980) zunächst (p. 114):

    "Given the intensive and continuing nature of antibiotic "stress", the emergence of resistant bacteria was predicted by evolutionary theory."

    (Ähnlich Neil A. Campbell: Biologie, 1997, p. 371 [Spektrum].) Mir ist bisher jedoch kein konkretes Beispiel dafür bekannt, dass das Auftreten resistenter Bakterien auf Grund der Evolutionstheorie tatsächlich vor dem Auftreten der ersten Antibiotikaresistenzen 1944 vorhergesagt worden ist (obwohl man sich leicht vorstellen könnte, dass jede Selektionstheorie – auch eine "kreationistische" – eine solche Prognose hätte vornehmen können). Es scheint sich aber bei dieser Behauptung eher um eine Rückprojektion einer angenommenen Voraussage nach evolutionstheoretischen Voraussetzungen zu handeln. Diesen Punkt müßte ich jedoch noch einmal gesondert untersuchen. ("In 1944 penicillin was introduced to general clinical practice, causing a world-wide sensation that would be impossible to overstate…amid the near fanatic enthusiasm for antibiotics there were reports, from the first days of their clinical use, of the existence of bacteria that were resistant to the chemicals" (L. Garret 1994, p. 36). – von Voraussagen im oben genannten Sinne habe ich jedoch noch keine Spur in dieser "world-wide sensation" gefunden).

    Die wiederholt anzutreffende Behauptung von der Voraussage der Evolutionstheorie zu den Antibiotikaresistenzen scheint mir auch nicht ganz zu Ende gedacht worden zu sein. M. T. Madigan, J.M. Martinko und J. Parker bemerken in ihrem Werk Biology of Microorganisms 2000, pp. 766/767: "...a strain of Escherichia coli that was freeze-dried in 1946 was found to contain a plasmid with genes conferring resistance to tetracycline and streptomycin, even though neither of these antibiotics were used clinically until several years later. Also, strains carrying R plasmid genes for resistance to semisynthetic penicillins were shown to exist before the semisynthetic penicillins had been synthesized. Of perhaps even more ecological significance, R plasmids conferring antibiotic resistance have been detected in some non-pathogenic gram-negative soil Bacteria. These resistance plasmids may confer selective advantage because major antibiotic-producing organisms (Steptomyces, Penicillium) are also normal soil organisms. Thus, it seems that R plasmids are not a recent phenomenon but existed in the natural microbial population before the antibiotic era. Later, the widespread use of antibiotics provided selective conditions for the rapid spread of these R plasmids. R plasmids are thus a predictable outcome of natural selection." Nach meinen bisherigen Recherchen ist das Letztere wieder "rückwärts predicted". Alle spezifischen (Plasmid-) Resistenzgene waren schon vor den Antibiotikatherapien des Menschen vorhanden! Der plasmidgebundene horizontale Gentransfer über Konjugation, Transposons und Rekombination war jedoch keineswegs vorhergesagt worden (siehe die Details in den folgenden Ausführungen).

    Die oben zitierten Autoren R.B.Davey und D.C.Reanney fahren in Übereinstimmung mit praktisch allen mir bekannten Autoren, die sich mit dieser Thematik genauer beschäftigt haben, fort (also mit allen, die sich wirklich mit der Materie auskennen und ganz unabhängig davon, welche Auffassung die Autoren sonst noch zum Ursprung der Organismen vertreten):

    "However, the nature of the resistance was not. In the early 1950s spontaneous mutation was accepted as the prime generator of change in bacteria."

    Man machte also zum Auftreten der Resistenzen in den 1950er Jahren auf Grund der Synthetischen Evolutionstheorie die falsche Voraussage, dass alle Resistenzen auf Mutation/Selektion zurückzuführen wären.

    Zur multiplen Resistenz von Shigella bemerken die Autoren weiter (pp. 115/117 und 122/123):

    "Simple mathematics, combined with epidemiological considerations, rules out spantaneous mutation as the explanation of multiple drug resistance. A variant resistant to a single drug might be expected to arise at a frequency of 10-6 – 10-9/cell/generation. However, mutations are independent of each other, that is, a mutation conferring resistance to drug A does not normally confer resistance to an unrelated drug B. The chance that a single strain might acquire simultaneous resistance to four different antibiotics is thus of the ordern of 10-24 – 10-36. Even if one could imagine a multiple resistant mutant clone arising in a population of Shigella, the occurrence of an identical resistance pattern in a different organism such as E. coli could not be explained by the mutation hypothesis (see Falkow 1975)."

    As noted, spontaneous mutation is unlikely to explain the rapid emergence of bacteria with such novel phenotypes as multiple resistance. From what is known of the biochemical mechanisms responsible for the ECE [extrachromosomal elements] –borne phenotypes listed in Table I, it appears that completely "new" enzymatic activities are normally involved. Spontaneous mutation is most unlikely to produce such novel, "positive", characters, except across a very extended time scale; indeed, available evidence...appears to downgrade spontaneous mutation as a general and major short-term mechanism of adaptive change in bacteria."

    Auf Grund von "simple mathematics" konnte man also den Mutationsfaktor bei den multiplen Resistenzen weitgehend ausschließen und nach neuen, bisher unbekannten Faktoren suchen, - welche Bemühungen schließlich zur Entdeckung des horizontalen Transfers von Resistenzgenen über Plasmide führten.

    Das zeigt übrigens, wie ausgesprochen fruchtbar mathematische Erwägungen zur Mutations- und Evolutionsfrage sein können.

    Vom Mutationsbegriff trennen wir jedoch nicht nur den horizontalen Gentransfer deutlich ab, sondern auch die Rekombination.

    Kutschera selbst schreibt (2001, p. 35) zur Frage der genetisch bedingten Variabilität: "Als deren Ursachen wurden zum einen die spontan auftretenden Mutationen, zum anderen die mit der sexuellen Fortpflanzung einhergehende Rekombination erkannt...Als Mutation bezeichnen wir ganz allgemein eine Veränderung in der Erbsubstanz eines Lebewesens...Man unterscheidet zwischen Genom-, Chromosomen- und Gen-Mutationen."

    Der vielleicht etwas missverständliche Satz "Als Mutation bezeichnen wir ganz allgemein eine Veränderung in der Erbsubstanz eines Lebewesens" soll nach den vorangegangenen Feststellungen des Autors aber ganz offensichtlich nicht die Rekombination miteinschließen. Und in diesem Punkt ist dem Autor nur zuzustimmen. Ähnlich definierten R. Rieger, A. Michaelis und M.M. Green schon 1976, p. 377 (Glossary of Genetics and Cytogenetics; Springer), wenn sie zum Begriff "mutation" unter anderem schreiben: "mutation (de Vries 1901) – any detectable and heritable change in the genetic material not caused by genetic segregation or genetic recombination, which is transmitted to daughter cells and even to succeeding generations giving rise to mutants cells or mutant individuals provided it does not act as a dominant lethal factor...." Ebenso McGraw-Hill Dictionary of Bioscience 1997, p. 306: "mutation [GENETICS] An abrupt change in the genotype of an organism, not resulting from recombination;..." (Nur Begriff mutation von den Autoren bold.)

    Ich denke, wir können den Autoren bei ihrer Differenzierung zwischen Mutation und Rekombination nur voll zustimmen: Wir müssen die Rekombination ( "1. The occurrence of gene combinations in the progeny that differ from those of the parents as a result of independent assortment, linkage, and crossing-over. 2. The production of genetic information in which there are elements of one line of descent replaced by those of another line, or additional elements." – McGraw-Hill Dictionary, p. 392) sowohl bei unserer praktischen genetischen Arbeit als auch theoretisch so klar wie möglich vom Mutationsbegriff trennen, wenn wir nicht ein Begriffswirrwarr produzieren und unsere eigene Arbeit und unsere Erkenntnismöglichkeiten zu entscheidenden Fragen einschränken wollen.

    (Es gibt auch einige ganz wenige Berührungspunkte zwischen beiden Begriffen, die Futuyma 1998 herausgearbeitet hat, die für unsere Zwecke jedoch irrelevant sind, wie die intragene Rekombination; aber auch er unterscheidet ansonsten deutlich zwischen Mutation und Rekombination).

    Vgl. Sie bitte weiter die Differenzierung zwischen Mutation und Rekombination der 63 neodarwinistischen Biologen, darunter 8 Nobelpreisträgern unter AesV3.html (Nachträge).

    Wenn wir nun schon zwischen Mutation und Rekombination in aller Regel klar unterscheiden, und sich diese Differenzierung als wissenschaftlich notwendig und außerordentlich fruchtbar erwiesen hat, - wieviel mehr sollten wir dann zwischen Mutation und horizontalem Gentransfer unterscheiden, genauer zwischen Mutation und ‘transmissible antibiotic resistance’ durch Konjugation ! ("We now know that the genes for transmissible antibiotic resistance are located on conjugatve R plasmids ("R" for resistance) in bacteria such as E. coli; the plasmids can be readily transferred to various other bacterial cells..." Pelczar et al. 1993, p. 572, ähnlich Madigan et al. 2000, p. 766.)

    Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass Rekombination bei den Vielfachresistenzen eine ganz entscheidende Rolle spielt. Wenn ‘Plasmide mit mehr als 10 Resistenzen heute keine Seltenheit mehr’ sind (E. Günther 1984, p. 393) erhebt sich die Frage: "Wie können so viele Antibiotika-Resistenzgene Teil eines einzelnen Plasmids werden?...[Transposons] können von einem Plasmid auf das Chromosom springen oder umgekehrt; oder sie wechseln von einem Plasmid auf ein anders über. Transposons sind für die Kombination der verschiedenen Gene für Antibiotikaresistenz in einem einzigen Plasmid verantwortlich, indem sie Gene aus verschiedenen Plasmiden auf einem Plasmid zusammenfassen" (Campbell 1997, p. 371). "In bacteria, gene transfer that can lead to recombination may occur in any of three different ways: transformation, transduction, and conjugation" (Pelczar et al. 1993, p. 365; kursiv ohne weitere Hervorhebung von den Autoren).

    Ich denke, dass wir konsequent zwischen Mutation auf der einen Seite und transmissible antibiotic resistance durch conjugation und recombination auf der anderen unterscheiden sollten!

    Wenn etwa ein Student den Text von Kutschera zu diesem Thema liest ("Zahlreiche Bakterienstämme, die beim Menschen bestimmte Krankheiten auslösen können, sind nach Mutation in der Lage, in Anwesenheit eines Antibiotikums zu wachsen...Diese auf Mutation/Selektion basierende rasche Bakterienevolution ist in Krankenhäusern zu einem großen Problem geworden" - Kutschera, p. 227) – erhält er den falschen Eindruck, dass Mutationen zu etwas in der Lage sind, was sie (zumindest in dieser Geschwindigkeit und Häufigkeit) tatsächlich niemals vollbringen könnten ("...available evidence...appears to downgrade spontaneous mutation as a general and major short-term mechanism of adaptive change in bacteria" – vgl. R.B.Davey und D.C.Reanney oben). Es entsteht bei solchen und ähnlichen Texten wie Kutscheras Bemerkung zur Antibiotikaresistenz zusätzlich auch häufig der Eindruck, dass Mutationen "schöpferisch" seien und dabei laufend neue Gene und Enzyme entstünden (vgl. wieder Der_Lederbergsche_I.html und das Folgekapitel).

    Nach meinem Verständnis wird hier von Herrn Kutschera der Faktor Mutation in unwissenschaftlichen Weise zur Förderung seines materialistischen Weltbildes aufgewertet (oder es ist ganz einfach Unwissenheit).

    Ich zähle solche Fehlinformationen zur Kategorie der "false facts": Der nicht mit den Tatsachen vertraute Leser kommt niemals von selbst beim Studium dieses Textes auf die Idee, dass es sich bei den multiplen Krankenhausresistenzen in Wahrheit nicht um die ihm bekannten Mutationen, sondern um "transmissible antibiotic resistance durch conjugation und recombination" handelt, - Faktoren, die bei einem möglichst eindeutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch von dem herkömmlichen Mutationsbegriff (wie ihn auch Kutschera in seinem Lehrbuch vermittelt), klar zu unterscheiden sind!

    Dass Kutschera hier tatsächlich von Mutationen im herkömmlichen Sinne spricht, geht auch aus den anschließenden Sätzen p. 227 hervor, in denen nun im Gegensatz zu den Mutationen bei Bakterien von den Genom-Mutationen der Angiospermen die Rede ist – siehe dazu seinen Hinweis oben: "Man unterscheidet zwischen Genom-, Chromosomen- und Gen-Mutationen."

    E.F.: Wenn Sie Darwinismus als 'Algorithmus' fassen...., dann bedeutet 'Mutation' alles, was die Nachkommen irgendwie von den Vorfahren unterscheidet.

    W.-E.L.: Dann wären alle neuen Rekombinanten sämtlicher Lebensformen neue Vielfach-Mutanten (meist sogar Vieltausendfach-Mutanten!) Eine solche Begriffsvermengung und -fusion hätte sich in der Vergangenheit als hinderlich in der Forschung und Lehre erwiesen und das wäre heute genauso. Zumal als Mutations- und Transposongenetiker erscheint mir dieser Punkt naturwissenschaftlich so bedeutungsvoll, dass ich ihn noch einmal betonen möchte: Wenn wir z. B. von Mutagenese sprechen, meinen wir normalerweise weder Rekombination noch Konjugation noch horizontalen Gentransfer. Komplementär dazu enthält ein neueres umfangreiches Werk zum Thema Horizontal Gene Transfer in seinem Index keinen einzigen Hinweis auf den Begriff Mutation (M. Syvanen und C. Kado: Horizontal Gene Transfer; Chapman & Hall. 1998, 474 pp.). Ich habe auch eine Reihe von neueren Lehrbüchern zum Thema Mutation konsultiert: Ich habe dazu kein Beispiel von horizontalem Gentransfer (etwa unsere Fälle von "transmissible antibiotic resistance durch conjugation und recombination") gefunden.

    E.F.: Der Mechanismus funktioniert dann zwangsläufig. Allerdings gebe ich zu, dass es sehr schwer vorstellbar ist, wie dieser Mechanismus schöpferisch wirken kann.

    W.-E.L.: Die von den vorliegenden Mechanismen erzeugte Variation bleibt innerhalb gewisser Grenzen und schafft keine synorganisierten neuen Strukturen (die Antibiotikaresistenzen sind additiv). Überdies: "Die meisten R-Plasmide gehen wieder verloren, wenn das Antibioticum nicht mehr angewendet wird, wenn kein Selektionsdruck besteht. Die Zellen mit Plasmid wachsen häufig etwas langsamer als die Zellen ohne Plasmid" (E. Günther 1984, p. 392)(vgl. AesV1.1.Resi.html und wieder Der_Lederbergsche_I.html).

    Nach meinem Verständnis befinden sich ‘solche wie die soeben erwähnten Unzulänglichkeiten im Lehrbuch [Evolutionsbiologie] Kutscheras en masse’. In dem vorliegendem Beitrag habe ich nur einmal die beiden von Ihnen erwähnten Punkte angesprochen. Man könnte jedoch mindestens ein halbes Jahr investieren, um alle Fehler und "falschen Tatsachen" des Lehrbuchs von U. Kutschera herauszuarbeiten. .......

    E.F. (Zum Mechanismus): Es gibt dazu natürlich Ansätze, aber die auszuführen würde etwas mehr Zeit beanspruchen als ich einfach so aufwenden möchte.

    W.-E.L.: Diese Frage beinhaltet sicher ein ganzes Kapitel für sich.

    Viele weitere der von Ihnen erwähnten Fragen würde ich gerne noch diskutieren, insbesondere auch Ihre hochinteressante These, "dass Falsifizierung nur im Rahmen eines Paradigmas möglich ist". Aber haben Sie bitte weiter Verständnis für meine Situation. Ich muss mich in nächster Zeit erst einmal anderen Aufgaben widmen.

     

    Beste Grüße,

    Wolf-Ekkehard Lönnig

    [P.S. ausgelassen, statt dessen der folgende Nachtrag für meine Leser:]

     

    Nachträge: 1) Der Leser vergleiche nur einmal zu den hier diskutierten und vielen weiteren Punkten das von Herrn Kutschera mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln energischer Diskriminierung als unwissenschaftlich verurteilte "Kreationistenbuch" von R. Junker und S. Scherer (2001): EVOLUTION – Ein kritisches Lehrbuch. Weyel Biologie. Gießen.

    Ganz konkreter weiterer Vorschlag: Vergleichen Sie bitte auch einmal gründlich die Passage U. Kutscheras zum Ursprung des Menschen mit den Ausführungen des Lehrbuchs von Junker und Scherer zum selben Thema! Prüfen Sie bitte gründlich-kritisch, ob Sie meine Meinung teilen können, dass im Vergleich zum ‘kritischen Lehrbuch’ Kutscheras Beitrag (auch für eine allgemeine Einführung) geradezu dürftig ist, auf dem Stand von gestern und damit selbst im Rahmen der Synthetischen Theorie zum Teil falsch.

    Historische Fehlinformation

    Auch einen historischen Punkt aus Kutscheras Lehrbuch möchte ich kurz erwähnen (Kutschera 2001, p. 26; bold/kursiv von mir):

    "Im Gegensatz zu den meisten Zoologen, Medizinern und Anthropologen, die der Deszendenztheorie aus den oben genannten Gründen zunächst ablehnend gegenüberstanden, akzeptierten die Botaniker des 19. Jahrhunderts die Darwinsche Lehre fast ohne Einschränkung."

    Man vgl. zu dieser Aussage das Buch des Evolutionstheoretikers Thomas Junker (1989): Darwinismus und Botanik. Rezeption, Kritik und theoretische Alternativen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Mit einem Geleitwort von Rudolf Schmitz. Deutscher Apotheker Verlag. Stuttgart. 367 pp. Man vergleiche weiter zu Kutscheras Aussage das dreibändige Mammutwerk des Marburger Botanikers Albert Wigand (1874): Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers. Braunschweig (der Botaniker Prof. Theo Eckardt, FU Berlin, der die Synthetische Theorie ablehnte, hatte mir die drei Bände einmal ausgeliehen).

    Beim Begriff "Darwinsche Lehre" müssen wir zunächst unterscheiden zwischen (1) der postulierten allgemeinen Abstammungslehre und (2) dem Darwinschen Mechanismus als Ursache der vermuteten Entwicklung.

    (1) Die Hypothese des allgemeinen Abstammungszusammenhangs wurde zwar nach Junker zwischen 1870-1875 von den meisten Botanikern zunächst akzeptiert, (2) nicht aber der Darwinsche Mechanismus. Aber selbst zum ersten Punkt ist mit T. Junker, p. 297, hinzuzufügen:

    "Es läßt sich feststellen, daß sich vom Ende der 70er Jahre an auch innerhalb der Wissenschaft die Tendenzen gegen das Selektionsprinzip sogar noch verstärkten, und dass in der Folge dieser Entwicklung selbst die evolutionistische Grundprämisse ­ Entstehung einer Vielfalt von Formen aus wenigen Grundtypen ­ wieder in Frage gezogen wurde." Und aufschlussreich ist dazu auch Junkers Anmerkung (Fußnote 24): "Diese konservative Grundhaltung machte auch vor dem Prinzip der gemeinsamen Abstammung nicht Halt. So wurde eine einheitliche Abstammung von zahlreichen Autoren nur mehr innerhalb gewisser Gruppen von Pflanzen akzeptiert. Diese Abkehr läßt sich in den Arbeiten von Nägeli, Sachs und Engler verfolgen" (Hervorhebung im Schriftbild von mir; zu den Details vergleiche man die Originalarbeit).

    Zur Frage nach der unmittelbaren Rezeption der Darwinschen Lehre in der Botanik bemerkt T. Junker (p. 289/290 auszugsweise, für weitere Details und die zum Teil für mich nicht akzeptablen Deutungen und Bewertungen der Ursachen aus materialistischer Sicht verweise ich wieder auf die Originalarbeit; bold von mir):

    "Obwohl die öffentliche Reaktion auf Darwins Werk auch in Deutschland sehr lebhaft war, wurde es in der botanischen Fachpresse zunächst ignoriert. Die Entstehung der Arten wurde bis 1863 weder in der Flora noch in der Botanischen Zeitung angezeigt, von einer Rezension ganz zu schweigen.....Erst 1863 erschien dann in der botanischen Fachpresse eine direkte Kritik von Darwins Werk (der zweiten deutschen Auflage). In dieser Besprechung werden Darwins Theorien durch D. F. L. v. Schlechtendal von einer typologischen Position aus abgelehnt......Es ist auffällig, daß sich zu dieser frühen Phase der Rezeption in der Botanik, abgesehen von Schleiden, nur Gegener der Evolutionstheorie zu Wort meldeten" (dazu die Anmerkung 8: "Frühe ablehnende Aussagen finden sich bei K. Müller, Hoffmann, Herder, Schlechtendal, Göppert, Schimper und Schultz-Schultzenstein. Braun und Treviranus äußerten dagegen eher vorsichtige Kritik.")

    Zur Akzeptanz der Darwinschen Theorie in der Zoologie bemerkt T. Junker (p. 291) in Kontrast zu Herrn Kutscheras oben zitierter Behauptung: "Früher als die Botaniker nahmen sich die Zoologen der Theorie Darwins an." (Weitere Details siehe pp. 190/291, u.a.: "Noch 1866 beklagte Haeckel "die kühle oder ganz negative Haltung des bei weitem grössten Theiles der Botaniker gegenüber Darwin's Selections-Theorie"").

    "DNA-Schrott" und Intelligent Design

    Herr Kutschera schreibt auf der Seite 209 seines Lehrbuchs:

    "Nur ein Bruchteil der etwa 3 Milliarden Basenpaare der DNA (etwa 3% des Genoms) kodieren für Proteine bzw. RNA-Moleküle. Diese wertvollen Erbanlagen (Gene) liegen, unübersichtlich verteilt, als einsame Abschnitte innerhalb unermeßlich langer DNA-Stränge, die aus monotonen Basensequenzen ohne Informationsgehalt bestehen ("DNA-Schrott", s. Kap.1). Über 90 % des Genoms (funktionslose DNA-Sequenzen) werden mit großem Energieaufwand von Generation zu Generation weitergegeben. Die ungeordnete Struktur des Human-Genoms steht im Widerspruch zum Konzept eines "planenden Schöpfers"."

    Ähnlich haben sich weitere Evolutionstheoretiker geäußert. Ohne auf die z.T. korrekturbedürftigen Details einzugehen, möchte ich hier nur feststellen, dass ich diesen Punkt schon an anderer Stelle wie folgt widerlegt habe:

    Michael Lynch bemerkt in seinem Beitrag The molecular natural history of the human genome (Trends in Ecology & Evolution 16, pp. 420-422, 2001) zum Unterthema "Our debris-laden genome" unter anderem auf der Seite 420:

    "Approximately half of the human genome consists of sequences that are obviously associated with transposable-element activity, and a large fraction of the remaining noncoding DNA might be a product of such activity but too divergent to be recognized as such. So much for intelligent design."

    Nehmen wir mit Lynch an, die Beschreibung des menschlichen Genoms als "debris-laden" sei vollständig zutreffend, so vergisst der Autor jedoch, dass das menschliche Genom - auch bei Richtigkeit des Intelligent-Design-Arguments - eine Geschichte hat, und zwar eine Historie, die aus zwei Phasen besteht: 1. Phase: Intelligent Design (samt Realisation) und 2. Phase: Sämtliche im darauf folgenden Zeitraum sich ereignenden DNA-Veränderungen durch Transposons, durch Bildung von Pseudogenen, durch Viren und die 'üblichen' Mutationen. (Vgl. dazu oben auch die Veranschaulichung des Prinzips durch das Beispiel "Autofriedhof".) Selbst heute noch können wir feststellen, wie in verschiedenen Drosophila-Linien und -Arten, die noch vor wenigen Jahrzehnten völlig frei von bestimmten Transposons waren, sich diese TEs (transposable elements) jetzt verbreitet und somit neues Terrain erobert haben (vgl. zum Beispiel Evgen'ev M., Zelentsova H., Mnjoian L., Poluectova H., Kidwell M.G. (2000): Invasion of Drosophila virilis by the Penelope transposable element. Chromosoma 109, pp. 350-357 und die Artbegriffsarbeit zum Thema HYBRID DYSGENESIS). - Was nun das menschliche Genom anlangt, so konnte in der zweiten Phase noch sehr viel geschehen. Wir halten also heutzutage keineswegs das menschliche 'Urgenom' in den Händen. (Vgl. zu sekundären Veränderungen bei den Lebensformen weiter das Kapitel Degeneration im Organismenreich in der Artbegriffsarbeit.)

    C3/C4-Frage

    Zur C3/C4-Frage vgl. Sie bitte die Ausführungen von Herrn Markus Rammerstorfer zum Thema C3/C4 Photosynthese ­ Ein Argument gegen Intelligent Design?

     


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