Reinhard Junker und Siegfried Scherer (1998): Evolution. Ein kritisches Lehrbuch. Unter Mitarbeit von 9 weiteren Autoren. 4. völlig neu bearbeitete Auflage.
Weyel Lehrmittelverlag Gießen. 328 S. Format: 20 x 26,5 cm; 39.80 DM. ISBN: 3-921046-10-6 (englische und finnische Auflagen in Vorbereitung)
(Und ein kurzer Nachtrag zur 5. Auflage des Lehrbuchs von 2001)
Auf keinem anderen Gebiet der theoretischen Biologie kommen derart häufig Emotionen ins Spiel wie auf dem Gebiet der Evolutionsdiskussion. Der Hauptgrund dafür liegt in der Tatsache, daß es bei diesen Fragen immer auch um das Selbstverständnis des Menschen geht. Dabei handelt es sich in der Regel noch um Probleme innerhalb der Evolutionstheorie, wenn zum Beispiel die Richtigkeit oder Tragweite des Punktualismus und des Neodarwinismus zur Diskussion stehen (oder um weitere 'Ismen' aufzuzählen, des Neolamarckismus, Katastrophismus oder Lyellismus). Die Richtigkeit der Evolutionstheorie wird dabei immer als vollkommen gesichert vorausgesetzt.
Vollends aber kochen die Emotionen über, wenn dann auch noch eine kleine Minderheit von Biologen allen Ernstes behauptet, man könne mit Beispielen aus der Biologie selbst die gesamte Makroevolution in Frage stellen. Und genau das ist das Ziel der Verfasser (beide sind Biologen, Scherer Inhaber eines Lehrstuhls für Mikrobiologie an einer renommierten deutschen Universität; ebenso sind alle 9 Koautoren Biologen oder Mediziner).
Ihr Anliegen stellen die Autoren im Vorwort nach einigen Hinweisen auf den Evolutionstrend der Zeit dar (u.a. nach Zitat von Dobzhanskys Wort, "nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution"). Im klaren Kontrast dazu weisen die Verfasser darauf hin, daß weithin unbekannte Deutungsprobleme und offene Fragen der Evolutionslehre "nach unserer Meinung ein so großes Gewicht haben, daß Makroevolution als Leitvorstellung ernsthaft in Frage gestellt werden muß und schon gar nicht als "bewiesenes Faktum" gelten kann".
Versuchen wir eine nüchterne Bilanz: Zunächst einmal darf man ruhig feststellen, daß es den Autoren gelungen ist, praktisch alle Hauptargumente zu Gunsten der Evolutionstheorie richtig und sachlich darzustellen. Und man wird mit dem Zoologen und Evolutionsbiologen Otto Kraus (Hamburg) einräumen, daß man den Autoren keine Unwissenheit der zur Debatte stehenden Fragen bescheinigen kann. Im Gegenteil, das Niveau geht häufig weit über das ursprüngliche Anliegen hinaus, ein alternatives Oberstufenlehrbuch zu schaffen und beschäftigt sich auch detailliert mit Fragen, wie sie schwerpunktmäßig erst in einem Biologiestudium näher behandelt werden (Artbegriffe, Bakterienevolution, Probleme des Ursprungs der verschiedenen Gruppen des Pflanzenreichs, etc.). Damit heben sich die Autoren von zahlreichen kreationistischen Schriften wohltuend ab, in denen Hauptargumente der Evolution (wie die säugetierähnlichen Reptilien, die verschiedensten Urvogelfunde, die frühen Hominiden, die homologen Ähnlichkeiten auf morphologisch-anatomischer und molekularer Ebene etc.) einfach ausgelassen oder ungenügend bzw. unrichtig dargestellt werden.
Hier ein kurzer Überblick über den Gesamtinhalt: Zunächst widmet sich das Lehrbuch einer wissenschaftstheoretischen und geschichtlichen Einführung (z. B.: "Was ist Naturwissenschaft?"), dann folgen "Grundbegriffe der Evolutions- und Grundtypenbiologie, weiter die "Kausale Evolutionsforschung" mit der "Reichweite der Evolutionsfaktoren" Mutation, Rekombination und Selektion sowie der Frage nach der "Makroevolution". Der 4. Teil ist den "molekularen Mechanismen der Mikroevolution" und der "chemischen Evolution" gewidmet. Teil 5 behandelt Homologie, Embryologie und Biogeographie, Teil 6 die Fossilüberlieferung und Teil 7 "Grenzüberschreitungen".
In allen Teilen arbeiten die Autoren daran, die bestehenden Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten der zeitgenössischen Evolutionstheorie(n) aufzuzeigen. Der kritische Leser prüfe meine Auffassung, daß die Autoren dabei ausgesprochen erfolgreich waren auf den Gebieten des Ursprungs des Lebens, der Funktion der Homöoboxgene, der Embryologie (dem "biogenetischen Grundgesetz") und etwa "der Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer molekularen Maschine", um einige wesentliche Punkte herauszugreifen. - Zu kurz hingegen erscheinen mir die Kapitel über den Parasitismus und die Biogeographie und nicht zutreffend die Behauptung, daß Langzeit-Schöpfungslehren "eine nicht sehr verbreitete Variante der Schöpfungslehre" seien. Nach einem Hinweis von Herrn L. Cincinnati ist die Abbildung 17.21 (S. 291, Buntbarsche) zu korrigieren. Desweiteren sollten sich die Autoren auch mit den 'modernen' DNA-Stammbäumen kritisch auseinandersetzen. Stammbaumkonstruktionen aufgrund von Proteinsequenzen werden heutzutage nur noch hin und wieder durchgeführt.
Vom Ansatz her sehr gut sind die "Textkästchen" zur Kennzeichnung von Grenzüberschreitungen zur "sorgfältigen Trennung von objektiven Daten, theoriegeleiteten Interpretationen und weltanschaulichen Vorentscheidungen" (S. 5). Dieses Vorhaben wird dann auch für die Schöpfungslehre recht konsequent durchgeführt, für die Evolutionslehre jedoch nur an wenigen Stellen (S. 149, 170). Den Kästchen "Grenzüberschreitung Schöpfungslehre" auf den Seiten 46, 47, 134, 152, 155, 167 etc. ließen sich Kästchen mit dem Titel "Grenzüberschreitung Evolutionslehre" gegenüberstellen (S. 195 z.B. die Grenzüberschreitungen Haeckels und heutiger Biologen beim "Biogenetischen Grundgesetz") oder die Grenzüberschreitungen von Evolutions- und Schöpfungslehre in jeweils ein und demselben Kästchen aufführen. Letzteres wird von den Autoren zum Teil schon praktiziert, aber Hinweise auf "das Scheitern Haeckels" und den in der Embryologie in vielen Fällen irreführenden Rückgriff auf die postulierte Stammesgeschichte sollte man kaum unter der Überschrift "Grenzüberschreitung Schöpfungslehre" erwarten. - Es könnte bei der bisherigen Darstellung manchmal der Eindruck entstehen, daß vor allem die Schöpfungslehre zu Grenzüberschreitungen tendiert, kaum aber die Evolutionslehre, - was wohl weder im Sinne der Verfasser ist, noch den Tatsachen entspricht. Eine Schwierigkeit dabei ist, daß in unserem materialistischen Zeitalter die Evolutionslehre ihre Grenzüberschreitungen in der Regel gar nicht mehr wahrnimmt und entsprechend auch nicht mehr reflektiert. Um so wichtiger ist es, diese Punkte besonders hervorzuheben (auch wenn die Autoren diese Fragen im Haupttext bereits gut herausarbeiten).
Inwieweit ist es nun den Autoren gelungen, mit biologischen Argumenten ihr Ziel zu erreichen, die Makroevolution selbst in Frage zu stellen? Hier werden die Auffassungen je nach Standpunkt des Betrachters stark divergieren.
Nach der festen Überzeugung der meisten Evolutionsbiologen handelt es sich bei fast allen von den Autoren diskutierten offenen Evolutionsfragen keineswegs etwa um grundsätzliche Probleme, die die Theorie selbst in Frage stellen könnten, sondern nur um vorläufige Wissenslücken, die im Zuge der weiteren Forschung noch geschlossen werden.
Da bei dieser Auffassung die Evolutionstheorie nicht mehr falsifizierbar ist, kann kein Zweifel daran bestehen, daß die große Mehrheit der zeitgenössischen Biologen das Anliegen der Verfasser als völligen Irrweg einstufen wird. Nach Dawkins (1989) ist jemand, der die (Gesamt-)Evolution nicht akzeptiert, "unwissend, dumm oder verrückt (oder boshaft, aber das sollte ich lieber nicht in Betracht ziehen)" - womit die oben erwähnten Emotionen wieder ins Spiel kommen. Aber nehmen wir Dawkins so ernst, wie er es von uns erwartet: Da die Autoren mit gründlichen Sachkenntnissen, Intelligenz und Verständnisbereitschaft in der vorliegenden Evolutionsdebatte das genaue Gegenteil von Ingnoranz, Dummheit oder gar Boshaftigkeit bewiesen haben, bleibt aus Dawkins' Perspektive nur noch eine gewisse Verrücktheit übrig. Aber auch für diesen Fall sollte es möglich sein, den Verfassern die zu erwartenden zahllosen Fehlschlüsse und Irrtümer im Detail nachzuweisen. Denn grundsätzlich gilt: wenn ich einen Gegner meiner Anschauungen wissenschaftlich widerlegen möchte, muß ich mir auch die Mühe machen, ihn so gründlich zu studieren, daß ich seine hauptsächlichen Mißverständnisse und Fehlschlüsse nachweisen kann. In diesem Sinne darf man alle Freunde Darwins und Dawkins ermuntern, das Lehrbuch genauestens durchzuarbeiten.
Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums werden wohl viele Kritiker Darwins und Gegner der Synthetischen Evolutionstheorie dieses Werk als einen Meilenstein zur Widerlegung der Makroevolution willkommen heißen und ihm weiteste Verbreitung an Schulen und Universitäten wünschen. (Nach 26000 verkauften Büchern der ersten drei Auflagen beträgt die Startauflage der vorliegenden vierten Auflage 10000 Exemplare.)
Diesem Anliegen wird man von evolutionistischer Seite keineswegs dadurch adäquat begegnen können, indem man die Kritik weiter auf die (übrigens gar nicht einheitliche) theologische Position* der 11 Autoren konzentriert und die Biologie dabei möglichst ausklammert. Vielmehr wird eine angemessene Gegenkritik nur dann möglich sein, indem man sich auch auf die naturwissenschaftliche Ebene begibt und auf dieser Basis argumentiert. Wie uns die Geschichte der Biologie an zahllosen Beispielen lehrt, müssen wir klar zwischen der Motivation und den erzielten naturwissenschaftlichen Argumenten und Ergebnissen unterscheiden. Niemand könnte etwa das "biogenetische Grundgesetz" mit Haeckels monistischer Motivation widerlegen. Es reicht nicht, die Autoren in die kreationistische Schublade abzulegen, von der sie sich bereits selbst distanziert haben. Im übrigen kann man berechtigte Kritik auch ohne spezielle Alternativen akzeptieren, so daß die Lektüre in jedem Falle lohnt.
Mit Ausnahme vielleicht des Epoche machenden Buches von Walter James ReMine The Biotic Message (welches inzwischen 6 Jahre alt ist und in einigen Punkten der Ergänzung bedarf, die der Leser zumeist in dem vorliegend rezensierten Lehrbuch findet), und (in Ansätzen) der Arbeit von Michael J. Behe (1996) Darwin's Black Box , - ist mir jedenfalls auf dem Buchmarkt Europas und der USA keine vergleichbar umfassende und naturwissenschaftlich gründliche Evolutionskritik bekannt, die auf dem neuesten Stand der Forschung wäre. Wer sich ernsthaft für die Ursprungsfrage interessiert und für eine möglichst objektive Beurteilung beide Seiten hören möchte, für den ist das Werk ein Muß.
Ein Wort schließlich zur Aufmachung und zum Preis des Buches: Wie immer man das Anliegen der Autoren bewerten mag, so kann man doch die fast durchgehend farbigen, schätzungsweise mehr als 500 Abbildungen, Tabellen und Schemata als graphische Meisterleistung qualifizieren. Der Preis von DM 39,80 ist bei dieser Aufmachung und dem Format erstaunlich käuferfreundlich.
Wolf-Ekkehard Lönnig
Kurzer Nachtrag zur 5. Auflage des Lehrbuchs von 2001
Die Kapitel zu Forschungsbereichen, in denen zur Zeit fast ununterbrochen neue
Hypothesen und
Ergebnisse vorgelegt werden,
sind in der 5. Auflage wieder auf den neuesten Stand gebracht worden (insbesondere mehrere Punkte zur
Entstehung der Vögel und
zur Paläanthropologie), und einige kleinere Fehler wurden berichtigt (siehe oben Buntbarsche).
Der Ausbau der "Textkästchen" zur
Kennzeichnung von
Grenzüberschreitungen zur "sorgfältigen Trennung von objektiven
Daten, theoriegeleiteten Interpretationen und weltanschaulichen
Vorentscheidungen" (S. 5) sollte in einer zukünftigen Auflage nach meinem Verständnis auch
für
die
Evolutionstheorie konsequent
durchgeführt werden (siehe oben).
- Die Überlegungen und Modellrechnungen zur "Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer molekularen
Maschine" (pp. 128-134), die nach Aussage der Autoren bisher auf "biologisch nicht haltbaren
Annahmen" (p. 133) beruhen, sollten - als
Ziel über weitere Näherungsschritte -
schließlich doch
auf der Basis von grundsätzlich
richtigen Annahmen gemacht werden, - und zwar Annahmen, von denen die Autoren letztendlich auch selbst
überzeugt
wären
(ein
Teil
dürfte im Prinzip sogar schon
zutreffen, aber dieser
Fragenbereich verlangt eine ausführliche Diskussion, die mir im Rahmen dieses
kurzen Nachtrags
nicht möglich ist).
Insgesamt gesehen ist das Werk jedoch so hervorragend gelungen,
daß es eine ganz
ausgezeichnete
Hilfe für eine Urteilsfindung in der Frage nach dem Ursprung der Organismenwelt sein kann. Emotional
geprägte Reaktionen (einschließlich 'haßerfüllter Tiraden' - anders kann man manche
Kommentare kaum
mehr bezeichnen) sind, - und zwar ohne wissenschaftlich qualifizierte
Einwände - , eher als ein sicheres Zeichen
für die hohe
wissenschaftliche Qualität der Arbeit EVOLUTION - EIN KRITISCHES LEHRBUCH einzustufen, als
eine berechtigte Kritik: Andernfalls
hätten Kritiker, die sich mit der Materie auskennen, dazu wissenschaftlich-sachlich und auf eine ruhige Art
und Weise
Stellung nehmen
können.
*Soweit ich das bisher wissen kann (ich kenne nur einen Teil
der
Auffassungen einiger Autoren zu diesem Thema), identifiziere ich mich
sensu
stricto mit keiner dieser
Positionen.
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