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(4) "HYBRIDENSTERBLICHKEIT" BEIM MENSCHEN

Strukturabbau mit unterschiedlichen Entwicklungsstörungen bis zur Lethalität finden wir bedauerlicherweise auch beim Menschen. Levitan und Montagu geben 1977, pp. 674 - 684 detailliert die Geschichte der Rhesusfaktoren beim Menschen wieder. Vereinfacht formuliert fehlt Rhesus-negativen Menschen das Rhesus-Antigen - was einen Strukturverlust bei etwa 15 % der weißen Bevölkerung bedeutet (bei Farbigen ist der Prozentsatz geringer). Kein Genetiker, Anthropologe und Mediziner würde aufgrund der in der Regel ab dem zweiten Kind auftretenden Entwicklungsstörungen (1. Filialgeneration zwischen einer rh - Mutter und einen rh + Vater) auf die Idee kommen, etwa zwei verschiedene Menschenarten zu unterscheiden, obwohl viele Kinder bereits vor der Geburt sterben (Stengel 1980, p. 181). Vogel und Motulsky (1979, 1982) u.a. haben bei dieser Frage darauf hingewiesen, dass hier die Selektion gegen Heterozygote arbeitet.

Welche Schwierigkeiten aus selektionistischer Sicht mit den Rhesusfaktoren verbunden sind, beschreibt Schwidetzky 1974, p. 538:

Da alle an Erythroblastose sterbenden Kinder von Rh-positiven Vätern und Rh-negativen Müttern abstammen, handelt es sich um eine Selektion gegen Heterozygote, bei der das häufigere Gen immer häufiger, das seltenere immer seltener werden würde. Die geographischen Häufigkeitsdifferenzen können aber durch diesen Selektionsmechanismus noch nicht geklärt werden. Es wären dazu zahlreiche zusätzliche Hypothesen notwendig, für die sich bisher keine Stützen beibringen lassen, z. B. die Annahme, daß sich in Nordwesteuropa vor 10 000 Jahren eine kleinere Rh-negative Population mit einer größeren Rh-positiven gemischt hat (Haldene, 1940; vgl. Mourant, 1954). Es bliebe weiterhin zu erklären, warum die eine alte Rasse überwiegend das Allel D, die andere überwiegend d besaß. Es ist jedenfalls sehr wahrscheinlich, daß noch andere, bisher unbekannte Evolutionsfaktoren an den geographischen Unterschieden im Rh-System beteiligt sind. Unverträglichkeitsreaktionen sind auch von einer Reihe anderer Systeme bekannt (MN, Kell, Duffy, Kidd; für AB0 vgl. unten), ohne daß dadurch bisher die Rassenunterschiede verständlich werden.

Da am Ende dieses Zitats auf weitere Unverträglichkeitsreaktionen hingewiesen wird, unter anderem sogar bei dem bekannten AB0-System (vgl. auch Kurbatova et al. 1984, pp. 691 - 701) (Schwidetzky berichtet unter Hinweis auf mehrere Autoren, dass 0-Mütter 23 % weniger A- und 18 % weniger B-Kinder hatten, als nach den betreffenden Elternkombinationen zu erwarten waren, wobei jedoch erhebliche Variationen vorlagen und sogar "eine Abhängigkeit vom Lebensstandard vorzuliegen scheint"), wollen wir auch hier nachsehen, ob die Ursache wiederum im Abbau von Strukturen zu finden ist.

E. Günther schreibt 1984, pp. 228/229 über das AB0-Blutgruppensystem:

Das AB0-Blutgruppensystem hängt von der Bildung der Antigensubstanzen ab. Diese Substanzen sind Glycoproteide, die zu 85 % aus Polysacchariden und zu 15 % aus Protein bestehen; sie sind an die Lipide der Zellmembran gebunden. Die Polysaccharidkomponente entsteht aus einer Vorstufe, an die durch ein nichtalleles Gen H der Zucker Fucose gebunden wird (Abb. 23). Dadurch entsteht die Substanz H, die das Substrat für die Genprodukte der Allele IA und IB ist. Das IA-Allel codiert das Enzym alpha-N-Acetylgalactosamyl-Transferase, das an Substanz H den Zucker alpha-N-Acetylgalactosamin bindet, so daß die A-Antigensubstanz entsteht. Das Allel IB codiert die alpha-D-Galactosyltransferase, das an die Substanz H nur einen Galactoserest addiert. IO codiert kein Enzym, das in der Lage ist, diese Reaktionen durchzuführen, die Polysaccharidkomponente ist daher die Substanz H.

 

Abb. 23: Polysaccharide der AB0-Blutgruppe. Bei der Blutgruppe 0 findet man nur H-Substanz an der Oberfläche der Erythrozyten, bei Blutgruppe A ist H- und A-Substanz vorhanden und bei Blutgruppe B H- und B-Substanz. Nach Wagner u. a. 1980, verändert. Aus E. Günther 1984.

 

Die Blutgruppe 0 kann auch durch einen Defekt im Gen H bedingt sein. Im allgemeinen liegen diese Antigene membrangebunden vor. Unter dem Einfluss des dominanten Allels Se (Sekretor) sind sie auch wasserlöslich in den meisten Körperflüssigkeiten vorhanden.

Dass verschiedene Schwierigkeiten auch bei diesem Beispiel durch den Abbau von Strukturen bedingt sein könnten, dürfte mit diesen Details klar geworden sein.

Ohta (1976) und Kimura (1983) haben zahlreiche Tatsachen, Modelle und Berechnungen vorgelegt, nach denen selektionstheoretisch neutrale und auch schwach nachteilige Mutationen eine bedeutende Rolle bei der molekularen Variation spielen. Wir möchten später näher auf diesen Punkt zu sprechen kommen.

An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Neodarwinismus die Isolationsmechanismen deshalb so stark betont, weil er darin die Basis für Neu-, Weiter- und Höherentwicklung zu erkennen glaubt. Wir haben jedoch schon gezeigt, dass der Genfluss bei zahlreichen Formen in der Natur unterbrochen ist - ohne dass damit Artbildung verbunden wäre.

Viele Beispiele zeigen, dass Isolation - sei sie prä- oder postzygotischer Natur - nicht zur Höherentwicklung führt. Die aufgeführten Fälle beim Reis, Gerste, Roggen und Menschen sind Beispiele für postzygotische Isolation durch Degeneration, dem Ausfall funktionsfähiger Strukturen. Mit Artbildung braucht postzygotische Isolation noch nichts zu tun haben.


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