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Biogeographie und Selektionstheorie: Ein Beitrag zur Diskussion eines fundamentalen Problems des Neodarwinismus

Aus der Diskussion mit Herrn Dr.A. (mein Brief vom 1.7.1997):

Vor ein paar Wochen hatte ich ein längeres Gespräch mit einem biologisch hoch motivierten Abiturienten (Herrn C.) und einem Physiker (Herrn D.), die mir Fragen zum Thema des horizontalen Gentransfers vorlegten. Diese Fragen haben wir anhand des Briefes, den ich Ihnen am 20. 4. 1996 zu diesem Problemkreis schickte, ausführlich diskutiert. Dabei ist mir aufgefallen, daß ich es versäumt habe, Sie zu Ihrer Bemerkung zu den Möglichkeiten der Genkombinationen der Lebewesen etc. (Brief vom 10. 2. 1996) noch auf einen bedeutenden biologischen Sachverhalt aufmerksam zu machen, der für diese Fragen von höchster Relevanz ist. Sie schrieben:

"Die Möglichkeiten für die Kombination der Gene der Lebewesen (die nicht nur innerhalb der Population "diffundieren", sondern durch Viren auch zwischen den Populationen) sind so riesig groß, daß jede neue Existenzmöglichkeit ausgenutzt wird. Deshalb können sich auch Pflanzen und Insekten aneinander sehr perfekt anpassen. Ich habe schon in einem früheren Brief Sie an die Arbeiten von Tschetverikow erinnert, der die Evolutionsgesetze mit den Gasgesetzen verglichen hat. Wenn im Fußball ein geringstes Loch entstanden ist, finden die Luftmoleküle mit der Zeit dieses Loch unbedingt."

Tschetverikows Vergleich mit den Gasgesetzen liefert ein sehr klare, fast möchte ich sagen "suggestive" Veranschaulichung, wie er sich die Wirkung der von ihm postulierten Evolutionsgesetze vorstellt.

Durch den Überdruck im Fußball (vergleichbar mit dem "Vermehrungsdruck" der Lebewesen sowie der "Diffusion" der Gene sowohl durch Kombination als auch horizontalem Transfer und ununterbrochener Erzeugung neuer Allele und Gene durch Mutationen einschließlich Duplikationen etc. plus Symbiosen und Selektionsdruck) finden die Luftmoleküle (sprich Evolution der Organismen) mit der Zeit ein im Fußball vorhandenes Loch unbedingt (auf die Organismen angewandt: Evolution zur Ausnutzung jeder neuen Existenzmöglichkeit). Daraus folgt, daß nach langen Evolutionsperioden alle ökologischen Nischen auch besetzt sein sollten, denn wo immer eine solche Nische frei wäre, würden sich die Arten weiterentwickeln, bis sie dieses "Loch" gefunden und besetzt hätten, und sie könnten die weitere Entwicklung dort fortsetzen.

Das sieht auf den ersten Blick logisch völlig einwandfrei und überzeugend aus - wie so vieles in der Evolutionstheorie. Sieht man sich die Voraussetzungen jedoch genauer an, zeigen sich zahlreiche nicht gelöste Probleme sowohl bei der Frage nach dem horizonten Gentransfer als auch der Bildung neuer Gene und der Selektionsfrage (einschließlich Symbiosen). Darüber haben wir ja im Detail schon gesprochen. Daß es sich hier nun tatsächlich um echte und für die Theorie schwerste Probleme handelt, zeigen die folgenden Punkte, die ich zu Ihrer Bemerkung mit diesem Brief nachreichen möchte:

In Großbritannien wurden im Laufe etwa der letzten hundert Jahre 322 (Wild-)Pflanzenarten neu eingebürgert (Hinweis bei U. und H. Sukopp, 1992; Ökologische Langzeiteffekte der Verwilderung von Kulturpflanzen), auf Hawaii etwa 1000 Pflanzenarten aus aller Welt (Mooney and Drake et al. 1989, p. 492 in: Biological Invasions, A Global Perspective. Eds. Drake et al., Wiley, New York; siehe auch C.P. Stone et al.(1993): Alien Plant Invasions in Native Ecosystems of Hawaii: Management and Research; 887 pp., Univ. of Hawaii Press). H. A. Mooney and J.A.Drake stellen 1989, p. 491 u.a. fest:

"...there are between 1500 and 2000 introduced species of plants in Australia, and nearly half of the flora of New Zealand (1570 invading species) is composed of invaders (Heywood, this volume). Over 1300 species of insects have successfully invaded the United States and we do not doubt that the catalogue of invaders worldwide greatly underestimates the extent of species invasions."

Tausende von Pflanzen- und Tierarten sind (oft von "weit her" kommend) an den verschiedensten Stellen der Erde vollkommen neu und erfolgreich eingebürgert worden (Tabelle z. B. in Nature, Bd. 388; 14. August 1997, p. 627: Global change through invasion).

Nehmen wir zur Veranschaulichung ein paar konkrete Beispiele: Die mediterrane Fruchtfliege Ceratitis capitata hat sich erfolgreich in Kalifornien "eingebürgert" (J. A. Carey: Science 253, 20. Sept. 1991, p. 1369-1373). Carey bemerkt u.a. (p. 1369):

"Many entomologists consider the mediterranean fruit fly, Ceratitis capitata (Wiedemann), to be one of the most destructive and costly agricultural pests in the world and, therefore, to pose an enormous threat to a state such as California with climatic and host conditions suitable for its establishment."

Die günstigen "climatic and host conditions" für diese Art wurden von O. Reynolds schon vor mehr als hundert Jahren (1886) festgestellt. Warum hat "die Evolution", die mit Notwendigkeit jede neue Existenzmöglichkeit ausnutzt, diese Art der Fruchtfliege nicht schon längst an Ort und Stelle entwickelt? Günstige Bedingungen bestanden dafür schon seit großen Zeiträumen. Hier waren jedoch offensichtlich Nischen unbesetzt! Wenn aber Tschetverikows Vergleich mit den Gasgesetzen stimmen würde, dürfte es gar keine unbesetzten ökologischen Nischen geben (die Gase diffundieren überall hin). Die Evolution müßte mit der Zeit sämtliche Nischen mit passenden Organismen besetzt haben, indem sie jede neue Existenzmöglichkeit ausnutzt! Statt dessen ist Ceratitis erst durch den Menschen (vermutlich mit Flugzeugladungen) nach Kalifornien gebracht worden. Seit ihrer ersten Entdeckung im Los-Angeles-Becken 1975 breitet sie sich dort aus. Auf der anderen Seite sind zahlreiche neue Arten erfolgreich in das Mittelmeergebiet eingeführt worden (vgl. Di Castri et al. 1990: Biological Invasions in Europe and the Mediterranean Basin. 464 pp.; Kluver).

Ein paar Beispiele aus Deutschland: Im Niederrheingebiet breitet sich zur Zeit massenhaft die aus Ostasien stammende Körbchenmuschel Corbicula fluminea aus. Sie wurde "durch die Schiffahrt zunächst nach Nordamerika und von dort aus nach Mitteleuropa verschleppt" (B.P.Kremer: Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, p. 127). Durch Einschleppung im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurden weitere Arten bei uns heimisch:

"Außer je einem Vertreter der Hohltiere (Keulenpolyp, Cordylephora caspia) und der Plattwürmer (Gefleckter Strudelwurm Dugesia tigrina) finden sich besonders erfolgreiche Immigranten unter den Krebsen und den Weichtieren. Auffälligste Art ist die seit 1931 auch im Rhein nachgewiesene Chinesische Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis), deren Jugendstadien gelegentlich bis zum Oberrhein aufsteigen. Der Amerikanische Flußkrebs (Oronectes limosus), die Mittelmeer-Wasserassel (Proasellus meridianus) und eine Süßwassergarnele (Atyaephyra desmaresti) runden das Spektrum der neuen Krebstiere ab. Unter den Weichtieren sind es gehäusetragende Schnecken wie Flußdeckelschnecke (Viviparus viviparus), Zwergdeckelschnecke (Potamopyrgus antipodarum) oder Spitze Blasenschnecke (Physella acuta) und individuenreich auftretende Muscheln wie die Wandermuschel (Dreissena polymorpha).

Diese Arten stammen entweder aus dem Schwarzmeergebiet, aus Nordamerika, Ostasien oder sogar aus Neuseeland."

Weitere Beispiele werden in dem Artikel aufgeführt.

Wären 'die Möglichkeiten für die Kombination der Gene der Lebewesen (die nicht nur innerhalb der Population "diffundieren", sondern durch Viren auch zwischen den Populationen) tatsächlich so riesig groß, daß jede neue Existenzmöglichkeit ausgenutzt würde', dann bleibt unverständlich, warum Arten aus dem Schwarzmeergebiet, aus Nordamerika, Ostasien oder sogar aus Neuseeland bei uns neue ökologische Nischen besetzen können. Alle Nischen müßten an Ort und Stelle nach mehr als 2 Milliarden Jahre währender Evolution längst besetzt sein! Warum haben sich in Australien keine Kaninchen entwickelt? Fazit: Diese Nischen waren offensichtlich bislang unbesetzt und Tschetverikows Vergleich mit den Gasgesetzen entspricht nicht den biologischen Realitäten. Denn nach Tschetverikow müßten die Luftmoleküle jedes geringste Loch mit der Zeit unbedingt finden. Tausende von erfolgreichen immigranten Arten in aller Welt beweisen hingegen, daß viele "Löcher" noch frei waren und zur Zeit ablaufende Einbürgerungen zeigen, daß weitere noch frei sind!

Nehmen wir ein Beispiel aus der Flora Mitteleuropas: D. Eichele und H.-W. Schwegler bemerken (in ihrem Werk Die Blütenpflanzen Mitteleuropas, Bd. 3, 1995, p. 126) über das Indische Springkraut Impatiens glandulifera : "Heimat: Himalaya. Kam als Zierpflanze nach Europa und verwilderte hier an verschiedenen Stellen vereinzelt seit etwa 1900, mit rascher Ausbreitung seit etwa 1930. Heute vielerorts einbürgert und örtlich bestandsbildend." Ähnliches wird vom Kleinen Springkraut (Impatiens parviflora) berichtet. Es stammt aus Nordost-Asien, verwilderte aus botanischen Gärten um 1840 und wurde örtlich sogar zum lästigen Unkraut. G. Hegi schreibt (Illustrierte Flora von Mitteleuropa,1928, S. 317/318) zum Kleinen Springkraut:

"Als lästiges, vielfach unvertilgbares und völlig eingebürgertes Unkraut in oft grossen Herden auf Gartenland, in Parkanlagen, an Schuttstellen, Wegrändern, auf Kartoffeläckern, Bahngeleisen und auf Flusskies; bisweilen auch massenhaft in schattigen Nadel- und Laubwäldern, feuchten Waldmulden und Gebüschen. Von der Ebene bis in das Bergland, bis etwa 760 m eingebürgert, vorübergehend verschleppt bis 1860 m."

Heute ist es an vielen Stellen Europas fest eingebürgert. Warum, so darf man fragen, hat nun unser einheimisches Springkraut (Impatiens noli-tangere) die inzwischen von den anderen Arten besetzten Nischen ("die Löcher" im Fußball) nicht schon längst selbst gefunden, sich dort hineinentwickelt und damit "besetzt"?! Auch für Nordamerika wird die Neueinbürgerung vom Impatiens parviflora notiert, und wir können die gleiche Frage zum Verhältnis dieser Art zu den 2 einheimischen Arten Nordamerikas stellen!

Um den Punkt noch einmal hervorzuheben: Die Möglichkeiten für die Kombination der Gene der Lebewesen (die nicht nur innerhalb der Population "diffundieren", sondern, wie manche Forscher annehmen, durch Viren auch zwischen den Populationen) sollen so riesig groß sein, daß jede neue Existenzmöglichkeit ausgenutzt wird. Die Luftmoleküle finden mit der Zeit unbedingt jedes geringste Loch im Fußball, aber unser einheimisches Springkraut konnte nicht die Plätze und Nischen besetzen, die inzwischen von Arten aus dem Himalaya und Nordost-Asien besetzt worden sind! Unser "Rührmichnichtan" (wie das einheimische Springkraut auf deutsch genannt wird) konnte offensichtlich nicht einmal die Existenzmöglichkeiten des indischen und nordasiatischen Springkrauts evolvieren! Und prinzipiell dieselbe Schlußfolgerung trifft auf das Verhältnis aller einheimischen Arten zu erfolgreichen Immigranten zu: Auf Hawaii, Nordamerika, ja auf der ganzen Erde! (Historisch gesehen waren von den Invasionen häufig völlig ungestörte Biocoenosen betroffen und das gilt zu einem geringen Teil heute noch.) Und es handelt sich bei den "Invasoren" tatsächlich um Tausende von Arten!

Allein in Europa dürfte die Zahl der eingebürgerten Pflanzenarten mehr als tausend betragen! Umgekehrt haben auch zahlreiche europäische Arten Kolonien rund um die Erde gebildet: Unser kleines Zymbelkraut Cymbalaria muralis kommt inzwischen in Algerien, Marokko, auf den Balearen, den Canaren, den Capverden, den Bermudas, in Südafrika, im Osten Amerikas von Kanada bis Uruguay, im Westen in den Pazifischen Gebieten der Rocky Mountains von British Kolumbien bis Kalifornien, in Neuseeland und Südaustralien vor (D. Hartl, 1975, p. 66; in: G. Hegi: Illustrierte Flora von Mitteleuropa, Band VI, Teil 1). Ähnliches ist von zahlreichen weiteren europäischen Arten festzustellen (Antirrhinum majus, Misopates orontium, Digitalis purpurea, um nur einige Scrophulariaceen zu nennen). Die Verbreitung erfolgte allgemein durch den Menschen (d.h. "die Evolution" der Arten selbst hätte das nicht zuwege gebracht.)

Fazit: Tschetverikows Vergleich stimmt nicht mit den biologischen Tatsachen überein! Es handelt sich nur um ein suggestives Bild zugunsten der Evolutionstheorie, aber die Grundlagen stimmen nicht. Sowohl die Möglichkeiten der Genkombination als auch alle weiteren sogenannten Evolutionsfaktoren sind begrenzt.

(Nachtrag:) Damit hat sich auch ein Schlüsselgedanke in Darwins Ideengebäude als falsch erwiesen, den S. J. Gould (Full House 1996, p. 143) wie folgt beschreibt und zitiert:

"Darwin depicts nature as a surface covered with wedges hammered into the ground and filling all space. A new species (depicted as a homeless wedge) can find a dwelling place only by discovering a tiny space between two existing wedges and hammering itself in by forcing another wedge out. In other words, each entry requires an expulsion - and biomechanical improvement might be the general key to successful wedging:

"Nature may be compared to a surface covered with ten thousand sharp wedges...representing different species, all packed closely together and all driven in by incessant blows...sometimes a wedge...driven deeply in forcing out others; with the jar and shock often transmitted far to other wedges in many lines of direction (from an 1856 manuscript, published by Stauffer, 1975).""

Tatsächlich aber gibt es keine strikte Korrelation zwischen dem Aussterben von Arten und der Zahl von geographischen Neuankömmlingen. Neben Artenverdrängung gibt es auf allen Kontinenten Hunderte von Beispielen für eine Koexistenz von "alten und neuen" Arten. Nach der Selektionstheorie hingegen müsste das alles vollkommen anders aussehen: Die alteingesessenen Arten müssten in Jahrmillionen immer perfekterer Anpassung an ihre spezielle abiotische und biotische Umwelt allen (nicht angepassten) Neulingen grenzenlos überlegen sein, so dass die Neuankömmlinge nicht die geringste Chance hätten, sich durchzusetzen!

Statt Evolution läßt sich hingegen weltweit die Degeneration von Arten biologisch-genetisch beweisen. Ich habe das mit vielen Beispielen in meiner Artbegriffsarbeit diskutiert. Der unterschiedliche Degenerationsgrad erklärt zum Teil auch, warum die erfolgreiche Immigration von Arten möglich ist (das gilt ganz besonders für Inselgebiete).

(Auch dieses Kapitel könnte noch weiter ins Detail gehen. Vielleicht fühlt sich ein Kritiker der herrschenden Auffassung durch die bisherigen Ausführungen angesprochen, zu diesem Thema einmal eine umfangreiche Arbeit zu verfassen!)


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