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D) PALÄONTOLOGIE

Wir haben oben schon die Wirkung des "Biogenetischen Grundgesetzes" auf die embryologische Forschung erwähnt. Goulds Bemerkungen zur Bedeutung dieser Rekapitulationsidee auf die Paläontologie seien im folgenden ausführlich zitiert (1977, pp.116/117):

"In my own field of paleontology, for example, it governed most studies in phyletic reconstruction from Haeckel's day right through the 1930s. At the turn of the century, the classification of almost every invertebrate phylum relied upon morphological criteria chosen for their ontogenetic value in constructing phylogeny from the biogenetic law (facial sutures of trilobites, suture patterns of ammonites, for example). As late as 1957, Jesse James Galloway wrote: " Ideally, a classification is built on the basis of comparative structure, and the application of the Law of Recapitulation, checked by the known geologic range of each taxonomic group" (p. 395). Faith in recapitulation was unbounded among paleontologists. In 1898, James Perrin Smith echoed a common, if extreme, claim:

One can even prophesy concerning the occurrence of unknown genera in certain horizons when he finds their counterparts in youthful stages of later forms; in fact he could often furnish just as exact a description as if he had the adult genus before him. (p. 122)

With ample justification, a recent and popular textbook of invertebrate paleontology states: "It is no exaggeration to say that the theory of recapitulation has had more effect upon paleontologic thought than has any doctrine aside from that of organic evolution itself" (Easton, 1960, p. 33). My colleague Bernhard Kummel tells of an argument he had in the 1940s with R. C. Moore, the greatest "classical" paleontologist of our century. Kummel, as a bright young Turk, was expressing some gentle doubts about recapitulation over dinner one evening when Moore, his patience stretched to the limit, brought down his fist and exclaimed: "Bernie, do you deny the law of gravity!"

Though I have retreated shamefully before the task of documenting how biologists worked with the biogenetic law in their empirical studies, I cannot abandon the historical treatment of recapitulation without some discussion of its actual use. But I shall adopt a different tactic and explore the impact of recapitulation in fields far removed from biology. As a criterion for the importance of an idea, widespread and influential exportation to other disciplines must rank as highly as dominance within a field."

Der Frage, wie die Biologen mit dem "Gesetz" gearbeitet haben, ist Gould hier aus dem Wege gegangen. Seine 1981 veröffentliche Studie hat das aber zum Teil nachgeholt. Es bedarf keiner weiteren Diskussion, daß die Forschung von dieser inzwischen allgemein als falsch abgelehnten evolutionistischen Voraussetzung über Jahrzehnte in falsche Bahnen gelenkt worden ist.

Zur Wirkung nicht nur dieses Teilaspekts, der Rekapitulationsidee, sondern des Glaubens an eine kontinuierliche Evolution der Organismen insgesamt auf die Paläontologie, haben in neuerer Zeit die Paläontologen Rudwick (1972) und Stanley (1979) einige interessante Kommentare gemacht. Nach Rudwick war gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine gewisse Stagnation zu beobachten. Die Produktion spezieller Arbeiten und Monographien nahm zwar exponentiell zu, "but their character became routine and their intellectual level stagnant". Zwei Hauptursachen werden von Rudwick für diese Situation aufgeführt: Die Paläontologie erfüllte nicht die in sie gesetzten Hoffnungen der Klärung der Frage nach der Entstehung des Menschen (die Piltdown-Fälschung von 1912 verdeutlicht die Notlage), und die Darwinsche Behauptung von der extremen Unvollkommenheit der Fossilüberlieferung (vgl. Darwins ORIGIN, Kapitel 10) bot wenig Anreiz zu evolutionistischen Studien. Nach Hinweis auf die beachtlichen Beiträge von G.-H. Bronn zur Paläontologie (dessen Werk nach dem Erscheinen der ORIGIN-Arbeit kaum mehr beachtet wurde, weil er sich gegen die Evolutionsauffassung ausgesprochen hatte) und Darwins Überlegungen zur Unvollständigkeit der geologischen Urkunden, schreibt Stanley (1979, p. 5):

"Thus, Darwin and his followers came to view the fossil record as being their enemy as much as their friend. The positive contribution of fossil data - the documentation of large-scale biotic transformation - remained, but was augmented by little new evidence of gradual transformation within specific lineages.

Here then we seem to witness the beginning of the schism between paleontology and neontology. The most productive areas of evolutionary research turned out to be purely biologic: areas like embryology, comparative anatomy, geographic ecology, and, later, genetics. Paleontology found a home primarily within geology, where it contributed especially to the temporal correlation of rocks. Certainly, some paleontologists remained lodged in departments of biology and a few contributions were made to evolutionary theory, but the biologic luster of the science was lost."

Die Synthese zwischen Paläontologie und Darwinismus erfolgte erst durch Simpson (1944, 1949, 1953) und eine erneute Trennung zeichnet sich derzeit durch die Schule von Gould und Eldredge ab (Einzelheiten zur Auseinandersetzung z. B. bei Hoffmann 1982, Gould und Eldredge 1993). Welche Wirkung im übrigen die Evolutionsforschung auf ihrer Meinung nach produktivere Gebiete wie Embryologie, Anatomie und Genetik hatte, haben wir oben gezeigt.

Bei Einbeziehung weiterer biologischer Disziplinen ließe sich die hier gemachte Skizze wohl zu einem umfangreichen historischen Werk erweitern. Ein paar Andeutungen wollen wir im folgenden noch machen.

Zunächst ein Beispiel aus neuester Zeit: Hans Krause - Tierfilmer und als erfolgreicher Hobby-Mineraloge zusammen mit seinem Bruder Entdecker eines Erzvorkommens in Kanada - ist für die meisten Paläontologen und Eiszeitforscher ein Außenseiter. Er hat jedoch in zwanzigjähriger Detailarbeit nachgewiesen, daß große Mammutherden unmöglich Zehntausende von Jahren in Eis und Schnee gelebt haben können und dann langsam ausgestorben sind (Krause 1978, 1996, 1997; siehe auch Krause's Research Reports 2002: http://hanskrause.de/). Obwohl Krause mit den führenden Experten der Welt korrespondiert und zum Teil auch Anerkennung gefunden hat, ist die Reaktion der Fachwelt (in den zuständigen Zeitschriften) und der Öffentlichkeit bisher gleich Null - seine Forschungsergebnisse passen wenig zu den herrschenden Paradigmen der Zeit.

Weitere Fachgebiete: Über J. H. Fabre, dem großen französischen Pionier auf dem Gebiet der Entomologie, schreibt Portmann (1974, p.150):

"Fabre ist schon in der Zeit seines frühen Ruhmes als Schriftsteller von den Biologen angefeindet worden. Er, den Darwin "den unvergleichlichen Beobachter" genannt hatte, konnte in jenen Jahrzehnten der siegreich vordringenden Evolutionstheorie nicht in den großen Chor einstimmen, der damals das Rätsel der Entstehung des Lebens und damit das Geheimnis des Menschwerdens als gelöst erklärte. Er bekämpfte die neue Lehre, und viele Biologen haben diese Einstellung damit beantwortet, daß sie auch sein großes, einmaliges Lebenswerk nicht zur Geltung kommen ließen."

Das gleiche läßt sich für Jacob von Uexkülls Umweltlehre sagen (vgl. T. von Uexküll 1980, pp. 62/63). Weiter wären ganze Kapitel aus dem Bereich der Anthropologie hier zu nennen. Um einen Punkt willkürlich hier herauszugreifen: Unter Berücksichtigung der oben zitierten Fossilknappheit bei der Frage nach dem Ursprung des Menschen ist es verständlich, daß den relativ wenigen Funden um so größere Bedeutung beigemessen wurde. Das führte jedoch zu einer Situation, die der englische Zoologe Douglas Dewar (1957, p.139) folgendermaßen beschreibt:

"So convinced were anthropologists that Neanderthal man is an ancestor of modern man and a link with the ape, that all fossils of man of modern type found in Pleistocene deposits were received with incredulity and most were rejected. As Prof. B. A. Hooten well puts it ("Apes, Men and Morons"(1938) p. 107): "The Western European classic Neanderthal type was altogether a too complete answer to Darwinian prayer...Heretical and non-conforming fossil men were banished to the limbo of dark museum cupboards, forgotten or even destroyed.""

Dies sind nur ein paar Hinweise, daß nicht nur die Genetische Forschung von den Darwin-Haeckelschen Hypothesen behindert bzw. zumindest vorübergehend in falsche Bahnen gelenkt wurde. Um ein differenziertes Bild zu diesen Fachbereichen zu vermitteln, müßten diese Punkte allerdings ebenfalls in allen Einzelheiten diskutiert werden.

Tendenzen der Gegenwart - (Dawkins, Dennet, Ridley, et al. - vgl z. B. den Beitrag David Berlinskis 1996 und die darauf folgende Diskussion mit seinen Kritikern) - möchte ich zum Abschluß dieses Kapitels mit einigen Worten des großen französischen Biologen Pierre Paul Grassé beschreiben (Grassé hat neben zahlreichen weiteren Beiträgen als Herausgeber des Traité de Zoologie - bis 1995 - 41 Zoologie-Bände bearbeitet). Er trifft den Kern der Sache, wenn er sagt (1977, pp.5/6):

"We have gone from Darwinism into neo- Darwinism, and very recently, to ultra-Darwinism, which not only claims to be the only custodian of truth in regard to evolution, but to be evolution itself...Present-day ultra-Darwinism, which is so sure of itself, impresses incompletely informed biologists, misleads them, and inspires fallacious interpretations...Through use and abuse of hidden postulates of bold, often ill-founded extrapolations, a pseudoscience has been created. It is taking root in the very heart of biology and is leading astray many biochemists and biologists, who sincerely believe that the accuracy of fundamental concepts has been demonstrated which is not the case."


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