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DARWINS ABHANDLUNG ZUR ENTSTEHUNG DES AUGES IN SEINER "ORIGIN Of SPECIES"

 

In vielen biologischen Abhandlungen (einschließlich Lehrbüchern und Skripten von Universitätskursen) wird Charles Darwin als einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten - vergleichbar etwa mit Galileo Galilei - dargestellt (Vgl. z.B. K. Lorenz 1965, 1975; H. Schreiber 1969; G. de Beer 1965 u.v.a.). Darwins Buch "Die Entstehung der Arten" wird heute noch als wichtiger Literaturhinweis nebst neuesten Werken zum Thema Evolution genannt und Studenten empfohlen (vgl. z.B. P. Bühler 1975: Zoologische Übungen für Fortgeschrittene (Großpraktikum), Teil B: "Weiterführende Literatur": Darwin; Dobzhansky; Mayr - Skriptum Universität Stuttgart Hohenheim, Sommersemester 1975; u.v.a.). Es ist daher aktuell, einmal nachzusehen, was Darwin selbst zu diesem Thema ausgeführt hat. Bevor wir im Folgenden die Seiten aus seinem Hauptwerk zum Thema Auge wiedergeben und Absatz für Absatz kommentieren, wollen wir zunächst zum Thema Variation und Selektion, dem Leitthema, mit dem der ganzen Evolutionsidee das kausale Fundament gegeben werden sollte und das auch in den folgenden Darwin-Zitaten immer wieder anklingt, einige grundsätzliche Bemerkungen machen.

H. Nilsson, ein "Genetiker von Weltruf" (Wartenberg 1965) und langjähriger Professor an der Universität Lund, schreibt zu diesem Problemkreis 1953, p. 246-250, auszugsweise (für einen schwedischen Forscher übrigens in recht gutem Deutsch):

Ein sehr wichtiger Grundpfeiler der DARWINschen Evolutionstheorie, ja das ganze Fundament dieser, war die Tatsache der stetig vorhandenen Variabilität. Für ihn war das eine Konstatierung, von der sich jedermann überzeugen konnte, sobald er eine Spezies näher beobachtete, und besonders auffallend trat diese Erscheinung bei den Kulturpflanzen und Haustieren hervor.

Da sich DARWIN weiter fragte - oder speziell seine Gegner sich danach fragten - wie diese Variabilität zu erklären wäre, so wußte er darauf keine Antwort zu geben. Er umging anfangs die Schwierigkeit durch das starke Hervorheben des Kampfes ums Dasein. Der Schwerpunkt der Theorie wurde dahin verlegt, und weil dieses Argument neu war, erweckte es auch die größte Aufmerksamkeit. Aber die Gegner seiner Evolutionstheorie ließen sich nicht lange von dieser Selektionstheorie blenden. Sie fragten bald: Kann denn der Kampf ums Dasein schaffen? Er kann und muß ja ausmerzen, also töten. Aber er kann nichts neuschaffen. Ebenso wie ein Sieb keine neuen Körner schaffen kann, nur die vorhandenen sieben kann. Was schafft bei dieser ganz klaren Sachlage immer neue Varianten? Es dauerte bis DARWIN eine definitive Antwort auf diese brennende Frage gab. Denn sein Versuch einer Lösung derselben im ersten Kapitel seiner "Origin of Species" (1859) muß als sehr vage betrachtet werden. Lamarckistische Anschauungen über die Einwirkung äußerer Faktoren, Domestikation, Gebrauch- und Nichtgebrauch, orthogenetische Spekulationen werden mit Kreuzung und plötzlicher Formbildung (sporting) so stark zusammengewoben, daß kein Unterschied zwischen dem, was wir heute als Erbliches und Nichterbliches als fundamental destinguieren, zu finden ist.

...

Es ist deshalb nur ganz natürlich, daß er später (1868) in "Animals and Plants under Domestication" seine Pangenesishypothese aufstellte, die ganz klar lamarckistisch war. Er hebt dort nämlich hervor, daß alle Teile des Körpers Keimchen produzieren, die durch die Blutbahnen zu den Geschlechtsorganen geführt werden. Werden nun die Keimchen durch peristatische Faktoren des Individuums verändert, und geht der veränderte Keim zu dem Reproduktionsorgan, so wird es auch durch die Keimzelle zu der nächsten Generation übergeführt. Die veränderte Eigenschaft ist erblich geworden. Wie JOHANNSEN (1926) bei der Diskussion dieser Frage hervorhebt, geht DARWIN durch diese Auffassung des Wesens der Variabilität nicht nur auf LAMARCK, sondern bis auf HIPPOKRATES zurück.

Es ist wichtig, diese Lage festzuhalten, wenn man die Rolle des Mendelismus bei der Beurteilung der Prämissen der Evolutionstheorie schätzen will. Die stetig vorhandene Variabilität mußte erklärt werden. Denn auf diese baute DARWIN die Artanfänge [samt neuer Strukturen und Organe; Beispiel: Auge] und auf diese wiederum die Spezies. Er wußte aber im Großen und Ganzen keinen anderen schaffenden Faktor aufzufinden als die Umwelt.

Mit einem Schlage wurde indessen das Problem der stetig vorhandenen Variabilität durch die Entdeckung MENDELs gelöst. Diese Variabilität ist nur das kaleidoskopische und unermessliche Rekombinationsspiel erblicher Einheiten, Reaktionsfaktoren, Gene. Diese brauchen nicht besonders viele zu sein. Denn schon 100, ja 20 geben bei ihrer Rekombination so viele Varianten wie die Sterne am Himmel.

...

DARWINs stetig vorhandene Variabilität liegt wirklich vor in ungeahnter Ausdehnung. An dieser Tatsache braucht man also nicht mehr zu zweifeln. Die Frage der Variantenbildung ist gelöst. Es restiert noch zu untersuchen, ob die Frage der Artbildung damit auch gelöst wird

°Bold und kursiv im Original gesperrt.

Diese Frage kann der Autor Heribert Nilsson mit Berufung auf das 3. Mendel'sche Gesetz (Neukombination der Gene) ganz klar verneinen. Die Variantenbildung ist zwar ungemein zahlreich, sie ist aber dennoch eindeutig begrenzt. So sind zum Beispiel bei nur 10 Merkmalspaaren in der F1 210 verschiedenen Keimzellen und bei ihrer Vereinigung 1 048 576 (210 x 210) verschiedene Kombinationen möglich. Als Ergebnis finden wir bei der Neukombination von 10 Merkmalspaaren 1024 phänotypisch verschiedene Formen, die man, ganz nach Wunsch, auch in einer kontinuierlichen Reihe anordnen kann.

Auf diese kontinuierliche Variabilität legte DARWIN den größten Wert. Die fließende Variation wurde ihm eine fließende Evolution. Der kontinuierliche Übergang in der Variationsserie wurde ihm eine kontinuierliche Veränderung. Wir sehen deutlich, daß seine Schlußfolgerung ein offenbarer Fehlschluß ist. Ein Fehlschluß, der für ihn naheliegend war, gerade weil er die Natur der Variabilität nicht kannte... Diese Variabilität ist unfaßbar reich, sie ist weiter ganz graduell, aber sie ist begrenzt.42)

Zum Thema Mutationen, über das wir bereits auf den Seiten 5, 13 - 25 und 32 - 34 gesprochen haben, weist H. Nilsson auf seine ausführliche und gründliche Besprechung in den Kapiteln III und IV seiner Arbeit hin.

In den folgenden Darwin'schen (sowie allgemein in neodarwinistischen) Ausführungen steckt letztlich die Idee der "absoluten Variabilität" wie D. Einhorn diese Voraussetzung einmal genannt und u.a. wie folgt beschrieben hat:

Man behauptet sehr häufig von deszendenztheoretischer, speziell Darwin-Haeckelscher Seite, daß die Grenzen der Variabilität im Bereiche der Erfahrung ungemein weit gezogen sind, das ist aber ganz prinzipiell falsch, denn die Variabilität erscheint uns in der Erfahrung gar nicht grenzenlos, ungemein weit, sondern lediglich ungemein reich, doch bei allem tatsächlich vorhandenen ungeheuren Reichtum der Variationen hat noch niemand etwa eine Säugetierform oder eine Vogelspezies im Bereiche der Variationen etwa eines Amphibiums gesehen und geglaubt - und wieviel weniger können wir uns vorstellen, daß trotz noch so mühe- und kunstvoller Einwirkung von außen nicht wieder ein anderer Moner, sondern ein Wirbeltier im Bereiche der Varianten eines Moneren zu finden wäre. Die prinzipielle Verwechselung des ungeheuren Reichtums der Variabilität mit der unermeßlichen Weite derselben ist die Achillesferse, das "Proton Pseudos" der Darwin-Haeckelschen Deszendenztheorie. Nur wegen dieses fast unerschöpflichen Reichtums, nicht aber der Weite, ist es nicht möglich, auf dem Wege der morphologischen und physiologischen Artbegrenzung zu einer konstanten, nicht mehr variablen organischen Größe vorzudringen, nur wegen der beinahe unbeschreiblichen Fülle der Varianten wissen wir nicht, wo wir im Bereiche unserer Erfahrung die letzten, festen Grenzen der Variabilität für ein gegebenes Wesen abzustecken haben; diese Schwierigkeit aber, die Grenzen zu bestimmen, dieses Nichtwissen um die letzten Grenzen der Variabilität eines Organismus verwandelt sich sofort der Deszendenztheorie in ein sicheres Wissen um die Grenzenlosigkeit der Variabilität.

Ein Beispiel aus dem Gebiete der Mathematik kann die Sache noch besser veranschaulichen und erklären: Zwischen 1 und 2 liegt eine unfaßbare Fülle und Mannigfaltigkeit von Werten und Formen, wie 1 1/2, 1 1/3, 1 1/4, ... 1 2/100 ... 2/100 000 usw. ins Unendliche, also eine Unendlichkeit im Kleinen, die aber immer in den unverrückbaren Grenzen von 1 und 2 eingeschlossen verbleibt und nie zu 3, 4, zur Unendlichkeit im großen werden kann. Nun stellen wir uns vor, daß wir etwa vom Werte 1 1/2 ausgehen, die einzelnen verschiedensten kleinen und verschwindend kleinsten Werte und Formen genau sichten und mustern, sowohl in der einen Richtung als auch in der anderen uns bewegen und uns durchaus bemühen, zu den letzten Grenzen, zu 1 und 2 vorzudringen, so werden wir gewiß eine unbeschreibliche Fülle von Werten und Formen kennen lernen, ohne doch die Grenzen selber feststellen zu können; ja, je mehr Unterschiede wir beachten werden und je genauer, ein um so größerer Reichtum wird sich unseren Augen offenbaren, um so weiter werden wir von den letzten Grenzen entfernt sein, um so mehr werden wir geneigt sein zu glauben, daß es überhaupt keine Grenze gebe - denn das ist die eigentümliche Natur der Unendlichkeit im kleinen, daß, je mehr Zwischenstufen wir erkennen, je präziser, um so mehr noch zu erkennen bleibt, um so weiter von uns die letzte Grenze zu rücken scheint -, und wir dürfen doch wohl nicht wirklich glauben, daß wir darum bereits längst über alle Grenzen hinauskommen und uns im anderen Grenzenlosen, im Unendlichen im Großen befinden. So ist es auch mit der Variabilität. Daraus, daß wir eine gewaltige Formenfülle eines bestimmten organischen Wesens erleben können, folgt noch keineswegs, daß die Variabilität dieses Wesens bereits gar keine Grenzen habe, daß sie in progressiver Richtung grenzenlos, absolut unendlich sei, daß wir im Umkreis der unendlichen Varianten etwa eines Marsupialiers (der unendlichen Varianten zwischen 1 und 2) auch tatsächlich die unzähligen Varianten einer Fledermaus (der unzähligen Varianten zwischen "5 und 6", 5 1/2, 5 1/3 ...), eines Wales usw. finden könnten, daß es für diese Variabilität überhaupt keine Grenzen gebe, daß wir von der Unendlichkeit im kleinen (1 und 2) aus wirklich die ganze Unendlichkeit aller organischen Formen, die Unendlichkeit im großen (1 - unendlich) hervorbringen könnten. Diesen Schluß zieht nun aber die Deszendenztheorie.43)

°Bold und kursiv im Original gesperrt.

Die bekannten Biologen und Verfasser verschiedener Lehrbücher und Schriften zur Abstammungslehre Remane/Storch/Welsch stellen zur Frage nach der Variation in progressiver Richtung fest (1973, p. 160):

Aber wir kennen keine echte Differenzierungsmutation, weder in einzelnen Genen, noch in einer Kombination von Erbfaktoren. ...Synorganisationen sind Apparate, deren Teile harmonisch gebaut sind und kooperativ funktionieren müssen, wie z.B. Augen, Zirporgane, Saugnäpfe oder bei Pflanzen die Fangblasen des Wasserschlauches Utricularia. Diese Apparate entstehen sicher nicht durch die Mutation eines Gens, sondern durch die Wirkung zahlreicher Gene. Ändert sich zufällig in einem solchen Apparat ein Teil, so wird seine Funktion gestört.44)

Diese fundamentalen Gedanken möchten wir im Auge behalten, wenn wir nun Absatz für Absatz aus Darwins "Origin" zur Frage nach der Entstehung des Auges wiedergeben und kommentieren (Original der 6. Auflage und besonders für diejenigen, denen die englische Sprache Schwierigkeiten bereitet, die Übersetzung von C.W. Neumann, bei Reclam 1963, pp. 245 - 250; - allerdings gehen in der Übersetzung doch einige Feinheiten verloren)45.


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